Der eindrucksvollste Moment der Neuproduktion von Paul Abrahams Operette „Ball im Savoy“ ereignete sich nach einem Staniolkonfetti-Finale, als angehängte Coda. Intendant und Regisseur Barrie Kosky unterbrach den Applaus für eine Ansprache: Von Syphilis infiziert, habe der emigrierte Komponist im Pyjama und mit weißen Handschuhen auf der Madison Avenue den Verkehr dirigiert, im Wahn, es sei ein Orchester. Nach jüdischem Glauben, so Barrie Kosky, befinde sich Paul Abrahams Seele als Dybuk in einem fremden Körper; mit einem Ritual solle dieser Kultur-Dybuk befreit und Paul Abraham nach Berlin zurückgeholt werden: Als Zugabe sang das gesamte, sich an den Händen haltende Ensemble am Ende sechsstimmig und a cappella, Abrahams „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände... Good Night“.
Die Neuinszenierung der Komischen Oper Berlin knüpft an die Uraufführung an, die am 23. Dezember 1932 durch das Ensemble des Metropoltheaters (an dessen Platz heute die Komische Oper Berlin steht) im Großen Schauspielhaus Berlin mit großem Erfolg stattfand, bis sie drei Monate später abgesetzt wurde. Die frivole und freche Jazz-Revue-Operette war dann im Dritten Reich verboten. Aber sie wurde keineswegs vergessen, sondern in einer amerikanischen Version von Oscar Hammerstein in London aufgeführt, nach dem zweiten Weltkrieg in orchestral abgespeckter Version an mehreren deutschen Bühnen, auch im Titania-Palast in Berlin-Steglitz, wieder gespielt und ab 1955 auch wiederholt verfilmt.
Das Libretto, mit witzigen Versen der Librettisten Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Breda, mischt Handlungselemente der „Fledermaus“ mit Feydeaus „Die spanische Fliege“: Ein Ehepaar kehrt nach einjähriger Hochzeitsreise heim. Beim Ball im Savoy trifft sich der Ehemann mit seiner verflossenen Geliebten, der argentinischen Tänzerin Tangolita, während sich im danebenliegenden Separée seine Ehefrau mit einem jungen Mann rächen will, der sich im Schlussakt als Mitarbeiter des Notars outet. Für ihr freimütiges Handeln erntet die Ehefrau den Zuspruch der Frauen ihrer Nation, doch am nächsten Morgen will sich das Ehepaar scheiden lassen. Als sich aber herausstellt, dass es in beiden Fällen nicht zum Vollzug des Ehebruchs kam, gibt es ein Happy End.
Letzteres gilt auch für ein Domestikenpaar und für das Buffo-Paar, den türkischen Attaché Mustafa Bey und die Jazzkomponistin Daisy Darlington. (Der Handlungszug, dass Daisy und Mustafa entgegen ihrer Absicht beschließen, doch ohne zeitliche Begrenzung zu heiraten, unterbleibt in der Neuinszenierung.)
Das Vorspiel der dreiaktigen Operette spielt in Venedig. Während der orchestralen Einleitung knüpft Regisseur Barrie Kosky gleichermaßen an den Erfolg der „Zauberflöte“ mit ihren Zeichentrick-Filmen an, wie an die Schattenspiele des 1901 in Berlin gegründeten Kabaretts „Überbrettl“. So ummalt ein Schattenriss-Film die Hochzeitsreise, mit Zug, Flugzeug, Fallschirm, Tauchgang, Dampfer und Fesselballon bis hin zur Mondlandung, während der Entreact vor dem Schlussakt bei abgelassenem schwarzem Decker erklingt.
Die Opulenz der Ausstattung manifestiert sich mehr in den Kostümen von Esther Bialas als im Bühnenbild von Klaus Grünberg, mit schweren, reflektierenden Vorhängen im Proszeniumsbereich und Bühnenrund, ergänzt durch eine extrem steile, metallene Showtreppe, sowie eine zentrale Lifttür in den Rahmenakten; wirkungsvoll aber die hoch gelagerten zwei Separées auf der Drehscheibe.
In zwei Teilen (mit Pause im zweiten Akt des Originals) vom Hausherrn temporeich in Szene gesetzt, singt und tanzt das Ensemble, mit vier Tanzpaaren und sechs auch tanzenden Statisten, insbesondere aber mit dem sich im Bewegungsduktus überbietenden Chor der Komischen Oper Berlin (einstudiert von David Cavelius). In Otto Pichlers Choreographie schlagen ausgelassene Tänze in Nackttrikots den Bogen zu den Nackttänzen von Anita Berber, und diverse Handlungsmomente – etwa eine der Ex-Ehefrauen des Mustafa als Transvestit, „das Pummelchen aus Friedrichshain“ – verweisen auf die im Berlin der späten Zwanzigerjahre erstmals offen ausgelebte Homosexualität.
Aufgepeppt ist die Neuinszenierung durch sechs der berühmtesten Nummern aus Paul Abrahams Filmmusiken und den Operetten „Viktoria und ihr Husar“ und „Die Blume von Hawaii“. Ein „Lindenquintett Berlin“ intoniert bereits vor Einsatz des Vorspiels eine Nummer im Stil der Comedian Harmonists.
Aber volle dreieinhalb Stunden trägt die dünne Handlung dann doch nicht. Auch besitzt Grünwalds Libretto zum Ball im Savoy“ zwar den Witz, aber leider nicht den politischen Biss seines Librettos zu Oscar Straus’ Operette „Die Perlen der Cleopatra“.
Adam Benzwi, der auch für die neue musikalische Fassung verantwortlich zeichnet, leitet die von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn rekonstruierte, groß besetzte Originalpartitur mit schwungvollem Elan. Neben zündenden Tanznummern, wie dem Modetanz „Känguruh“ und dem sattsam ausgekosteten und vom Chor mit Klatschen forcierten Schlager „Es ist so schön, am Abend bummeln zu gehn“, bleiben in der Speed-Mischung von Jazz, Fox und Blues doch die kammermusikalisch besetzten oder nur von Klavier begleiteten, melancholisch leisen Nummern stärker im Gedächtnis.
Dagmar Manzel, bereits in Weills „Die sieben Todsünden“ als eine perfekt singende und tanzende Schauspielerin gefeiert, verkörpert die Ehefrau Madeleine de Faublas. Vermutlich, um einer Diskrepanz des mit Mikroport verstärkten Gesanges bei den Duetten entgegen zu wirken, wurde ihr mit Christoph Späth als Marquis Aristide de Faublas ein hier stimmlich arg strapazierter Tenor zur Seite gestellt. Die Tangolita gestaltet Agnes Zwierko mit gurgelndem Akzent und Bravourtönen. Das Dienerpaar ist mit Peter Renz und Christiane Oertel vortrefflich besetzt; ihr Duett „Pardon Madame“ erklingt hier auf Jiddisch (übersetzt von Michael Felsenbaum). Die Rolle des türkischen Mustafa Bey, den Helmut Baumann jenseits der Tanzbuffo-Tradition als verliebten Attaché und Vielweiber-Ehemann gibt, deutet der Regisseur als eine von den Autoren bewusst umgebogene Juden-Figur.
Die herausragende stimmliche und darstellerische Leistung erbringt Katherine Mehrling, als eine exzellent jodelnde, brillant schnellsprecherische, gleichermaßen quirlige, wie souveräne Daisy Darlington unter dem männlichen Pseudonym Paso Doble. Zu Recht wurde Katherine Mehrling vom enthusiasmierten Premierenpublikum am stärksten bejubelt.
Weitere Aufführungen: 12., 15., 18., 21., 23., 26. Juni, 3. Juli, 28. September, 2., 5., 11., 25. Oktober 2013.