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Borjana Mateewa, Lena Haselmann, Hanna Herfurtner und Bele Kumberger ind Wolf-Ferraris „Aschenputtel“. Foto: Barbara Braun
Borjana Mateewa, Lena Haselmann, Hanna Herfurtner und Bele Kumberger ind Wolf-Ferraris „Aschenputtel“. Foto: Barbara Braun
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Wolf-Ferrari-Rarität in kindgerechter Länge: „Aschenputtel“ an der Staatsoper Berlin

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Irreführend ist die Ankündigung der jüngsten Premiere als „Kinderoper von Ermanno Wolf-Ferrari“, denn die Staatsoper im Schiller-Theater bietet die selten gespielte Oper des Komponisten zwar als traditonell vorweihnachtliches Märchenprogramm auch für Kinder an, weshalb das Programmheft den Titel zu „Oper für Menschen ab 6 Jahren“ modifiziert, aber die zweite vollendete Opernpartitur des deutsch-italienischen Komponisten ist so wenig eine Kinderoper, wie Humperdincks „Hänsel und Gretel“ oder „Königskinder“, allerdings in Berlin kindgerecht verkürzt auf 70 Minuten.

All zu dürftig (mit Rücksicht auf das erwartete kindliche Publikum?) ist das Programmheft ausgefallen Außer dem Plakat, dessen Rückseite ein Ausschneidebogen für das Baumhaus des Prinzen ist, gibt es nur Informationen zu den Mitwirkenden, aber nicht zur Oper selbst. Die Irritation steigt infolge der Tatsache, dass weder auf der Website des Originalverlages Josef Josef Weinberger in Wien, noch auf der als Bühnenvertrieb angegebenen Wiesbadener Verlagsgesellschaft Musik und Bühne Angaben zu Wolf-Ferraris „Cenerentola“, respektive „Aschenputtel“, zu finden sind.

Ermanno Wolf-Ferraris dreiaktige Oper wurde im Venezianischen Karneval des Jahres 1900 im Teatro La Fenice uraufgeführt. Der Misserfolg bewog den deutsch-italienischen Komponisten, wieder nach Deutschland, nach München zu übersiedeln. Das Libretto von Maria Pezzè-Pascolato übertrug dann Julius Schweitzer als „Aschenbrödel“ ins Deutsche. In dieser Fassung erschien es kurz darauf in München gedruckt. Der Erstaufführung, 1902 in Bremen, folgte ein Jahr später die Oper in Brünn. Eine neue deutsche Textfassung  von F. Rau kam im Jahre 1937, ebenfalls in Bremen, heraus.

Auf letzterer Fassung, in der die Namen Rosamunde und Liliana zu Hartwige und Neidtrude germanisiert sind, basiert die Berliner Strichfassung, welche die Personen Graf Trauersang und Prinz Syrupin, sowie den Großen Weisen und der Zweiten Weisen zu den Personen Gesandter Schlaraffenland und Gesandter Hungerland zusammenzieht. In der pausenlosen, gut einstündigen Version entfallen alle Nebenhandlungen, das Elternpaar des schwermütigen Prinzen ebenso, wie der Geist der toten Mutter Aschenputtels, die (solistischen) Elfen und alle Chöre von Hofstaat, Volk und himmlischen Gestalten.

So wird die Geschichte, „frei nach dem bekannten Stoff“, wie es im frühesten, in bei Ph. L. Jung (München ohne Jahr, ca. 1901) erschienenen Textbuch heißt, in der flotten Inszenierung von Eva-Maria Weiss stringent erzählt. Gleich beim ersten Ballbesuch verliert Aschenputtel in jenem Kleid, das ihr von Elfen pantomimisch zur Verfügung gestellt worden war, am Ende der Liebesbegegnung mit dem Prinzen ihren Schuh – eine deutliche Deflorationssymbolik. Die Stiefschwestern, die beim Fest ausgiebig mit den beiden Gesandten getanzt und geflirtet hatten, sperren ihre ungeliebte Stiefschwester in den Heizungskeller und geben sich nun beide als rechtmäßige Besitzerinnen des Schuhs aus. Aber bereits  auf dem Weg ins Schloss sinken beide nach einander ohnmächtig mit gekappten Füßen zu Boden.

Der existenzialistisch schwarz gewandete Prinz, zunächst auch mit schwarzer Rose hantierend, ist ein Aussteiger: er lebt in einem Baumhaus, in das er am Ende auch Aschenputtel heimführen wird. Zunächst näht Aschenputtel am modischen Hut ihrer adeligen Stiefmutter und sticht sich dabei in den Finger; aber die Folgen sind weniger schlimm als bei Dornröschen und die Blutung hält sich in Grenzen – zum Gegensatz derer ihrer Stiefschwestern, die sich mit einer Schneiderschere Zehe und Ferse abschneiden. Ihr verlorener Schuh, nicht aus Acrylglas, sondern ganz einfach goldfarben, wird vom königlichen Berater auf einem roten Kissen auf goldener Stange getragenen. Das junge Publikum, sonst nicht in die Handlung eingebunden, wird nur bei der Suche nach einem zum Schuh passenden Fuß kurz angespielt: der königliche Berater vergleicht an einigen Kindern in der ersten Reihe die Schuhgröße.

Den Raum der Werkstatt hat Hanne Loosen zu einem Bühnengesamtraum gestaltet: am einen Ende des Saales der Kleiderschrank in drei Etagen, daneben der Kellerverschlag, am anderen Ende der Eingang ins Schloss und daneben, in der Ecke, das Baumhaus des Prinzen. Den größten Raum nimmt eine Freifläche zum Spielen, Tanzen und Lieben ein, mit drei Zuschauerreihen auf beiden Längsseiten. Und darüber, auf einer der Längsseiten, konzertieren „Mitglieder der Staatskapelle Berlin und Mitglieder der Orchesterakademie bei der Staatskapelle Berlin“. Hinter dieser Nominierung verbirgt sich eine exzellente Kammermusikformation, angeführt vom 1. Konzertmeister der Staatskapelle, die von Vinzenz Weissenburger, dem Leiter des Kinderchors an der Staatsoper Unter den Linden, dirigiert werden. Der junge Maestro erweist sich als ein fundierter Leiter der ungewöhnlichen Formation und der räumlich weit entfernten Solisten und sorgt für einen musikalisch einwandfreien, großen Genuss.

Mit „Aschenputtel“ beschreitet Wolf-Ferrari jenen Weg, den Humperdinck mit „Hänsel und Gretel“ im Jahre 1893 vorgegeben hatte, die erfolgreiche Paarung von naiver Märcheninnigkeit mit Wagnerscher Musikdramaturgie, durchaus eigenständig: seine Partitur schwelgt nostalgisch, aber ungebrochen in romantischen Märchenklängen. Als einzige Wagner-Reminiszenz alludiert der Komponist jene Fanfare, die im zweiten Aufzug des „Lohengrin“ den erwachenden Tag verkündet.

Für Berlin hat Douglas Brown den Orchesterapparat, auf Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, solistische Streicher und Klavier reduziert. In dieser Fassung  klingt Wolf-Ferraris Komposition besonders transparent, aber nicht dünn.

Vokal lassen sich mit den Stimmen der beiden Stiefschwestern (Bele Kumberger und Lena Haselmann), denen der zwei Gesandten (Bariton Bernhard Hansky und Bassist Kai Wegner) und dem königlichen Berater Nasturzio, der bereits im Original auch die Funktion des Hofnarren mit übernimmt (Bariton Michael Rapke), die Ensembles gleichwohl trefflich gestalten. Das quicke Parlando der Terzette zwischen der Stiefmutter und ihren Töchtern, im Italienischen sicher leichter ausführbar als im Deutschen, gelingt mit erstaunlicher Bravour.

Hochdramatisch – und in der Werkstatt womöglich zu laut tönend – sind die staatsoperngerecht besetzten Protagonisten ohne jeden Makel. Die Partie des Prinzen stellt auch in der Kurzfassung an den Tenor hohe Anforderungen, die Paul O’Neill glänzend meistert. In der Titelrolle obsiegt Hanna Herfurtner mit geschmeidigen Lyrismen und dramatischem Pep. Die bulgarische Altistin Borjana Mateewa als Stiefmutter wurde am Premierenabend nicht nur für ihre intensive Gestaltung, sondern auch für ihren 60. Geburtstag gefeiert.

Da diese Produktion bis Jahresende 45-mal, teilweise zweimal täglich, gespielt wird, sind die Partien nicht nur doppelt, sondern zum Teil dreifach besetzt.
Am Premierenabend waren die Kinder in der Minderzahl. Der Applaus war stürmisch.

Der Besuch dieser selten zu hörenden, auf Tonträgern nicht existenten Oper ist ein Muss für Freunde der Spätromantik, nicht nur für Berliner.
 

Weitere Aufführungen:
06., 07., 08., 09., 10., 12., 13., 15., 16., 18., 19., 20., 21., 24., 25., 26., 27., 29. November,
01., 03., 04., 06., 07., 10., 11., 13., 14., 15., 17., 21., 23., 27., 28. und 29. Dezember 2011

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