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Berlin, den 16.12.2004. Der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, warnt vor der Verabschiedung der geplanten EU-Dienstleistungsrichtlinie und lehnt sie in der vorliegenden Fassung ab.
Zielrichtung der EU-DienstleistungsrichtlinieVon der vorherigen EU-Kommission wurde im Februar 2004 der Vorschlag für eine „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ (EU-Dienstleistungsrichtlinie) vorgelegt. Dieser Richtlinienvorschlag wird zur Zeit in den europäischen Gremien beraten. Der Ausschuss der Regionen hat bereits in seiner Stellungnahme vom 30.09.2004 Bedenken gegenüber die Richtlinie geäußert. Die Behandlung im Europäischen Parlament wird in der ersten Jahreshälfte 2005 erfolgen.
Die EU-Dienstleistungsrichtlinie steht im Kontext der so genannten Lissabon-Strategie, mit der das Ziel verfolgt wird, bis zum Jahr 2010 den EU-Binnenmarkt zum dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Die Richtlinie zielt darauf, einen Rechtsrahmen zu schaffen, der bestehende Hindernisse im Dienstleistungsverkehr beseitigen soll. Mit der Richtlinie wird ein horizontaler Ansatz angelegt, d.h. alle Dienstleistungsbereiche für Unternehmen und Verbraucher werden gleichermaßen erfasst. Einige wenige Branchen wie Bankdienstleistungen oder Telekommunikation und hoheitliche Aufgaben werden ausgenommen. Der horizontale Ansatz der Richtlinie hat zur Folge, dass branchen- bzw. sektorspezifische Besonderheiten nicht berücksichtigt werden.
Daraus folgt, dass auch Dienstleistungen des Bildungs- und Kulturbereiches, die audiovisuellen Medien und Dienstleistungen der Gebietskörperschaften, insbesondere der Kommunen, wie Waren angesehen werden und damit nach der EU-Dienstleistungsrichtlinie in vollem Umfang den Marktgesetzen unterliegen, ohne dass ihr besondere Charakter oder ihr gesellschaftlicher Nutzen berücksichtigt würden.
Vor dem Hintergrund der derzeit wieder verstärkt stattfindenden Diskussion über die geistigen Grundlagen Europas und insbesondere der Europäischen Union ist darauf hinzuweisen, dass gerade Kultur und Künste, dass die Künstlerinnen und Künstler sowie generell die Kulturschaffenden sehr viel stärker als bisher im politischen Handeln berücksichtigt werden müssen. Das heißt aber auch, Prinzipien und Handlungskonzepte von Kunst und Kultur, die bereichsspezifischen Regeln ihrer Entstehung, Verbreitung und Rezeption zu respektieren. Insbesondere heißt das, dass eine rein marktbezogene Denkweise nicht angemessen ist und letztlich für die notwendige kulturelle Vielfalt schädlich wäre. Diese Erkenntnis ist der Grund für entsprechende Schutzklauseln und Sonderregelungen, so etwa auch für die Bemühung um eine Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt: zwar sind in Teilbereichen auch künstlerische Prozesse und Produkte Waren, aber es sind auch dann Waren eigener Art, deren kulturelle Bedeutung als werttragend und identitätsstiftend nicht durch eine Behandlung als bloßes Wirtschaftsgut in Frage gestellt werden darf.
Unter den verschiedenen genannten Maßnahmen der EU-Dienstleistungsrichtlinie ist für den Kulturbereich die geplante Einführung des Herkunftslandsprinzip besonders bedeutsam. Dieses hätte zur Folge, dass der Dienstleistungserbringer nur den Rechtsvorschriften des Landes, in dem er seinen Sitz hat, also des Herkunftslandes, unterliegt. D.h. konkret Dienstleister aus anderen EU-Mitgliedsstaaten können in Deutschland ihre Leistungen anbieten und müssen sich dabei ausschließlich an die Rechtsvorschriften ihres Herkunftslandes und nicht mehr die im Inland geltenden Qualitäts- und Sozialstandards halten.
Die Richtlinie verfolgt einen dynamisierten Ansatz. Sie soll sukzessive verwirklicht werden, bis im Jahr 2010 der Prozess abgeschlossen sein soll. Ein wesentliches Ziel der Richtlinie ist die Stärkung der Mobilität von kleinen und mittleren Unternehmen.
Kultur in der EU-Dienstleistungsrichtlinie
In seinem Positionspapier „Kultur als Daseinsvorsorge“ (http://www.kulturrat.de/daseinsvorsorge.htm) hat der Deutsche Kulturrat herausgearbeitet, dass Kunst und Kultur in zunehmendem Maße unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Dies gilt nicht nur mit Blick auf den wirtschaftlichen Erfolg von Künstlern oder Kultureinrichtungen, sondern auch in Hinblick auf die Einbeziehung von Kunst und Kultur in internationalen Abkommen, die den Markt regeln sollen. Kunst und Kultur werden sowohl von der Welthandelsorganisation (WTO), der UNESCO als auch der Europäischen Union als Dienstleistungen klassifiziert. Daraus folgt, dass Kunst und Kultur, sofern sie bei internationalen Abkommen oder eben auch im Geltungsbereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie nicht explizit ausgenommen werden, den gleichen Regeln wie andere Dienstleistungsbereiche unterliegen.
In dem Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie wird klargestellt, dass sie keine Anwendung auf Tätigkeiten finden soll, die der Staat in Erfüllung seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen und rechtlichen Verpflichtungen ausübt und bei denen kein Entgelt gezahlt wird. D.h. konkret, dass der hoheitliche Bereich von der Richtlinie ausgenommen werden soll. Ebenso wird der Kulturbereich in Trägerschaft der öffentlichen Hand explizit angesprochen und eingeschränkt. Da hier in der Regel aber ein Entgelt verlangt wird, sei es als Jahresgebühr für die Nutzung einer Bibliothek, in Gestalt eines Eintrittsgeldes in das Museum oder Theater bzw. beim Elternbeitrag für Musikschulen, läuft diese Einschränkung in Leere.
Keine Anwendung soll die EU-Dienstleistungsrichtlinie darüber hinaus auf „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ finden. Hierbei wird Bezug auf das „Grünbuch der EU-Kommission zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ genommen. Demgegenüber sollen „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ nicht ausgenommen werden. Auch wenn Kulturdienstleistungen von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen als Dienstleistungen von allgemeinem Interesse betrachtet werden können, ändert sich diese Betrachtungsweise, sobald es ein privatwirtschaftliches Pendant bzw. Teilprivatisierungen gibt. Da zunehmend mehr öffentlich geförderte oder in Trägerschaft der öffentlichen Hand befindliche Kultureinrichtungen wie z.B. Theater, Museen oder Musikschulen Privatisierungstendenzen unterliegen, sind sie potenziell gefährdet. Der Deutsche Kulturrat schließt sich daher der Forderung des Europäischen Parlaments an die Europäische Kommission an, einen gesetzlichen Rahmen für „Dienstleistungen im allgemeinen Interesse“ vorzuschlagen. Es wird gefordert, dass alle von der öffentlichen Hand geleisteten und finanzierten Dienstleistungen ausdrücklich vom Anwendungsbereich der geplanten „Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ ausgeschlossen werden.
Darüber hinaus findet die EU-Richtlinie ohnehin Anwendung auf private Kultureinrichtungen – und seien auch es Scheinprivatisierungen der öffentlichen Hand -, auf die Tätigkeit von Künstlerinnen und Künstler sowie die Unternehmen der Kulturwirtschaft.
Der Kunst- und Kulturbereich ist also wie andere Sektoren auch von der EU-Dienstleistungsrichtlinie unmittelbar betroffen.
Die Einbeziehung audiovisueller und kultureller Dienstleistungen sowie der Filmförderung verbietet sich aber schon aus Art. 151 des EG-Vertrags zur Wahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt. In dem der Kommissionsvorschlag in Art. 2 audiovisuelle und kulturelle Dienstleistungen nicht komplett ausschließt, unterläuft er die Position der EU-Kommission im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen, bei denen diese explizit nicht in den Angebots- bzw. Forderungskatalog einbezogen waren. Der Deutsche Kulturrat fordert deshalb, sämtliche audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen einschließlich der kollektiven Verwertung von Urheberrechten aus dem Geltungsbereich des Richtlinienvorschlag herauszunehmen. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Maßnahmen zur Filmförderung verwiesen, die gemäß der filmwirtschaftlichen Mitteilung der Kommission vom 16. März 2004 (KOM (2004) 171 endg.) geregelt sind und damit auch nicht unter den Anwendungsbereich der EU-Dienstleistungsrichtlinie fallen dürfen.
Zu den kulturellen Dienstleistungen zählt auch die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften; auch diese ist daher von einer allgemeinen EU-Dienstleistungsrichtlinie auszunehmen. Die Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften ist in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU unterschiedlich geregelt. In einigen Staaten dürfen Verwertungsgesellschaften nur mit staatlicher Genehmigung und unter strenger staatlicher Aufsicht tätig werden; dies gilt nach dem Wahrnehmungsgesetz auch für Deutschland. Nach der Dienstleistungsrichtlinie könnten dagegen Verwertungsgesellschaften aus allen Mitgliedsstaaten der EU in allen anderen Mitgliedsstaaten tätig werden, ohne der dortigen Staatsaufsicht unterworfen zu sein. Die – im Interesse von Urhebern und Nutzern eingeführte – durch die staatliche Kontrolle garantierte Qualitätssicherung der Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften würde damit beseitigt. Ebenso würden dadurch die nach deutschem Recht wichtigen sozialen und kulturellen Aufgaben der Verwertungsgesellschaften (vgl. §§ 7 S. 2 und 8 Wahrnehmungsgesetz) umgangen. Eine Einbeziehung der Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften in eine allgemeine EU-Dienstleistungsrichtlinie verbietet sich darüber hinaus auch, weil sich die Kommission schon völlig unabhängig davon intensiv mit den spezifischen Problemen der Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten im Binnenmarkt, also der Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften, befasst (Mitteilung der Kommission vom 16.4.2004 KOM (2004) endg.).
Kultur als Daseinsvorsorge
In seinem Positionspapier „Kultur als Daseinsvorsorge“ hat der Deutsche Kulturrat ausführlich dargelegt, dass Kunst und Kultur einen Doppelcharakter haben. Sie sind Wirtschaftsgüter aber auch kulturelle Güter, die von großer gesellschaftliche Bedeutung sind.
Kunst und Kultur müssen nach Auffassung des Deutschen Kulturrates ein elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge sein. Unter kultureller Daseinsvorsorge versteht der Deutsche Kulturrat ein kontinuierliches flächendeckendes Kulturangebot in verschiedenen künstlerischen Sparten zu erschwinglichen Preisen mit niedrigen Zugangsschwellen. Dieses Angebot muss qualitativ anspruchsvoll und der Innovation verpflichtet sein. Der Deutsche Kulturrat misst in seinem Positionspapier „Kultur als Daseinsvorsorge“ der kulturellen Bildung eine besondere Bedeutung bei, da kulturelle Bildung dazu beiträgt, Interesse für Kunst und Kultur zu wecken und zu fördern.
Der Deutsche Kulturrat befürchtet, dass bei der Anwendbarkeit der geplanten EU-Dienstleistungsrichtlinie auf den Kulturbereich, der Ökonomisierung von Kunst und Kultur weiterer Vorschub geleistet wird und die Qualität des künstlerischen und kulturellen Angebotes leiden würde.
Forderungen des Deutschen Kulturrates
· Der Deutsche Kulturrat fordert, gegenüber der horizontalen Regelung des Dienstleistungsbereiches sektoralen Regelungen den Vorzug zu geben. Sektorale Regelungen ermöglichen, dass die spezifischen Ausgangslagen sowie Bedingungen eines Bereiches Berücksichtigung finden können. Das Prinzip des Herkunftslandes ist abzulehnen.
· Sollte die EU-Kommission an einer horizontalen Regelung des Dienstleistungssektors festhalten wollen, fordert der Deutsche Kulturrat eine Ausnahmeregelung für den Kunst-, Kultur- und Medienbereich einschließlich des Films sowie der kollektiven Verwertung von Urheberrechten. Der Deutsche Kulturrat sieht die EU-Kommission und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in der Verantwortung, hier die im EG-Vertrag festgelegte Kulturverträglichkeitsprüfung konsequent anzuwenden und auf Grund der Gefahren für die genannten Bereiche, eine Ausnahme von der Richtlinie festzulegen.
· Darüber hinaus sieht der Deutsche Kulturrat die Gefahr, dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie die Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedsstaaten im Kulturbereich einschränkt. Da die Europäische Union im Kulturbereich nach Art. 151 EG-Vertrag nur subsidiär handeln darf, würde eine Anwendung der EU-Dienstleistungsrichtlinie auf den Kulturbereich diesem Vertragsartikel zuwider laufen. Die Bewahrung und Förderung der kulturellen Vielfalt zählen zu den Grundwerten der Europäischen Gemeinschaft. Neben ihrer Festschreibung in Art. 151 EG-Vertrag sind sie in Art. 22 der Charta der Grundrechte der EU verankert und werden in der von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union noch zu ratifizierenden Verfassung an mehreren Stellen zu finden sein.
· Ferner muss nach Auffassung des Deutschen Kulturrates bei komplexen freiberuflichen Dienstleistungen wie z.B. Architekturdienstleistungen das Bestimmungslandprinzip erhalten bleiben, da nur so anerkannte Qualitätsstandards gesichert werden können.
· Ebenso müssen erreichte Sozialstandards im Kulturbereich fortgelten, da sie wesentliche Voraussetzung für die Qualität künstlerischer Leistungen sind. Das kulturellen Leben in Deutschland zeichnet sich nicht nur durch eine große Quantität und Vielfältigkeit des kulturellen Angebotes, sondern auch durch eine hohe Qualität aus. Diese darf durch die Einführung des Herkunftslandsprinzips nicht gefährdet werden.