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Kasseler Orgel-Neubau macht Töne sichtbar

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Kassel - Die derzeit größte Orgel-Baustelle Deutschlands ist in Nordhessen zu finden. Die neue Orgel der österreichischen Firma Rieger Orgelbau in der Kasseler Kirche St. Martin verspricht ein einzigartiges Sound-Erlebnis. Die Möglichkeit zu Vierteltönen kommt dabei der Interpretation zeitgenössischer Musik entgegen.

Wer die Martinskirche betritt, sieht es sofort: Der norwegische Künstler Yngve Holen hat in Zusammenarbeit mit dem Architekten Ivar Heggheim aus einem Musikinstrument ein Kunstwerk gemacht. Der untere Teil der Orgel wird aus ein bis zwei Meter langen Haaren bestehen, die sich beim Spielen durch den Luftzug bewegen und so die Töne sichtbar machen.

«Das ist einzigartig», sagt Kantor und Kirchenmusikdirektor Eckhard Manz, der die Fertigstellung der neuen Orgel kaum abwarten kann. Ganze Stücke hat er noch nicht auf dem Kircheninstrument spielen können, aber einzelne Töne. «Ein Traum», schwärmt der 49-Jährige, der seit fast zehn Jahren an der Verwirklichung des Instruments arbeitet. 2,5 Millionen Euro kostet der Neubau. Davon übernimmt die Landeskirche 1,1 Millionen Euro wegen der überregionalen Bedeutung des Projekts. Den Rest trägt die Kirchengemeinde Kassel-Mitte und wird durch Spenden aufgebracht. «Die Spendenbereitschaft ist enorm», freut sich der Kantor. «Die Orgel überlebt uns alle. Die Menschen sehen die Wertigkeit und spenden quasi für die Ewigkeit.»

«Eine solche Orgel wird in Europa vielleicht alle zehn Jahre gebaut», erklärt Peer Schlechta, Orgelsachverständiger der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Mehrere hundert Jahre könne die Orgel alt werden. «Das ist Kunsthandwerk.» Das Besondere an der Orgel sei auch für Laien sofort hörbar, denn es erklingen 24 statt 12 Töne pro Oktave. «Es können Vierteltöne gespielt werden. Das ist einzigartig.»

Für die Zuhörer sei das zunächst befremdlich, denn die Tonhöhe lasse sich nicht sofort einordnen. Man müsse hinhören und werde dann mit einem Klangerlebnis der Extraklasse belohnt. Schlechta hält die Orgel nicht einfach nur für ein Musikinstrument, sondern für ein «Leuchtturmprojekt». «Die Orgel ist ein Impuls. Sie wird die Leute in die Kirche locken», ist er sich sicher. Bei den bislang angebotenen, öffentlichen Führungen sei die Begeisterung spürbar gewesen.

«Eine Orgel ist immer eine Einzelanfertigung. Es gibt nie zweimal die gleiche Orgel», macht Schlechta deutlich. Trotzdem fällt das Instrument in Kassel mit allen Möglichkeiten zur Interpretation neuer Musik aus dem Rahmen. Nicht nur, weil die längste der Pfeifen auf stolze elf Meter kommt. 5675 davon sind in vier begehbaren Räumen verbaut. Eine wahre Sisyphusarbeit.

Intonateur Stephan Niebler von der Firma Rieger-Orgelbau aus Österreich braucht vor allem Geduld, wenn er arbeitet. Jede der 5675 Pfeifen nimmt er mehrfach in die Hand und muss auf den hundertstel Millimeter genau arbeiten. «Es ist eine akustische Herausforderung», sagt er nicht ohne Stolz. Jede Pfeife muss einzeln auf das akustische Verhältnis des Kirchenraumes angepasst werden. Die Intonation, das Bestimmen der Klangfarbe der einzelnen Pfeifen, die zwischen wenigen Gramm und 400 Kilo wiegen, braucht Monate. Dafür kann Niebler am Ende des Prozesses zu Recht sagen: «Den Klang habe ich entstehen lassen.»

Bis der Klang tatsächlich im Kirchenschiff ertönt, müssen sich Stephan Niebler und Eckhard Manz nicht mehr lange gedulden. An Pfingsten soll die Orgel, die auch als «Königin der Instrumente» bezeichnet wird, eingeweiht werden. Ein Gottesdienst und eine Segnung sollen den Anfang der neuen Orgel-Ära einleiten. Daran schließt sich ein Festival bis zum 27. August an. Das musikalische Spektrum ist dabei genauso außergewöhnlich wie das gesamte Projekt. Es reicht von Uraufführungen bis hin zur Kombination mit Tanz. Eine Besonderheit sind dann die täglichen, mehrstündigen Improvisationen. Organisten erkunden spielend das Instrument und stellen es den Besuchern vor. Stephan Niebler will das auf keinen Fall verpassen: «Ich will wissen, wie mein Klang verarbeitet wird.«


Die Orgel auf einen Blick

- wiegt mehr als 25 Tonnen.

- nimmt die komplette Westseite der Kirche ein.

- ist begehbar und besteht aus vier Räumen.

- ist nicht nur ein Instrument, sondern auch ein Kunstwerk, das der norwegische Künstler Yngve Holen zusammen mit dem Architekten Ivar Heggheim gestaltet hat.

- verfügt über zwei voneinander unabhängige Werke: ein fahrbares Modul im Kirchenschiff und ein Orgelwerk an der Westwand der Kirche.

- ist auf dem Boden des Kirchenschiffs und vom Hauptspieltisch auf der Empore bespielbar.

- wird an Pfingsten eingeweiht. Darauf folgt ein internationales Festival bis zum 27. August 2017

 

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