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Artistik statt Katzenjammer - Das Varieté überholt das Musical

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Noch bis vor fünf Jahren sorgten Musical-Klassiker wie "Les Misérables" auch in deutschen Theatern und besonders in NRW für volle Kassen. Doch seitdem ist der Katzenjammer groß. Eine Produktion nach der anderen zeigt nur noch für kurze Zeit ihre wirkungsvollen Krallen.

Düsseldorf (ddp-nrw). Je höher und schneller der Aufstieg, desto rasanter die Talfahrt. Diese alte Weisheit trifft nicht nur auf den Börsenhandel, sondern auch auf den Musical-Markt zu - dieses Wunderkind der Unterhaltungsbranche, von dem das Publikum und die Veranstalter lange nicht die Finger lassen wollten. Plötzlich steht auch in NRW wieder das gute alte Varieté im Mittelpunkt.

Noch bis vor fünf Jahren sorgten Klassiker wie "Les Misérables" auch in deutschen Theatern und besonders in NRW für volle Kassen. Doch seitdem ist der Katzenjammer groß. Eine Produktion nach der anderen zeigt nur noch für kurze Zeit ihre wirkungsvollen Krallen. Als funktionierender Dauerbrenner hat sich nur der "Starlight Express" in Bochum etabliert. Seit über zwölf Jahren präsentieren Rusty und Greaseball vor fast ausverkauftem Publikum ihre Rollschuh-Show. Über acht Millionen Menschen besuchten bereits die mehr als 5000 Shows.

Ansonsten herrscht aber am ehemaligen Broadway an Ruhr und Rhein Tristesse statt kunterbunter Show. Das Hippie-Musical "Jesus Christus Superstar" und "Joseph" waren in Essen genauso ein Flop wie "Les Misérables" in Duisburg. Ganz zu schweigen von "Gambler" in Mönchengladbach und "Gaudi" in Alsdorf bei Aachen oder Peter Maffeys "Tabaluga & Lilli" in Oberhausen, von dem schon ein halbes Jahr nach der Premiere ein Sprecher der Stadt von einer "sehr schlechten" Auslastung sprach.

Das Desinteresse des Publikums an der Flut der Musicals zeigt längst Wirkung. Das gilt nicht nur für Produktionsgiganten wie die Stella AG ("Les Misérables, "Cats"), die noch 1997 einen Gewinn von 46 Millionen Mark Gewinn verbuchen konnte und ein Jahr später bereits in den roten Zahlen war. Profitiert von der Entwicklung hat das Varieté mit einem Entertainmentangebot aus Tänzern, Sängern, Akrobaten, Komikern, Clowns und Kuriositäten aller Art. Und das trotz des gemütliches Flairs, bei dem die leibliche Versorgung traditionell dazu gehört, aber noch erschwinglich bleibt - selbst für die ganze Familie.

Muss man bei den Gesamtpaketen der Musical-Angebote schon mal bisweilen mehrere Hundert Euro berechnen, kostet im Düsseldorfer Apollo-Theater die teuerste Karte 47 Euro, im Essener GOP-Varieté gar nur 37 Euro. "Was uns ein Menge Wiederholungstäter sichert", stellt Katharina Huwer, Pressesprecherin vom GOP-Varieté, fest. Denn im Gegensatz zu den Musicals, die sich oft jahrelang an einem Standort mit nur einer Produktion etablieren wollten, leben die Varietés von der ständigen Abwechslung.

Nach maximal zwei Monaten werden neue, internationale Künstler eingeladen, bieten Jongleure, Magier oder Körperakrobaten ihre ungewöhnlichen Kabinettstückchen. Wobei die klassische Varieté-Linie absoluten Vorrang besitzt vor dem Spektakulären, mit dem aktuell das österreichische Varieté-Ensemble "Modern Primitives" auch in NRW gastiert. Mit dieser Freak-Show aus Darbietungen, die bis an den Rand der Selbstverstümmelung geht, "würden wir unser Publikum nur verschrecken", sagt Huwer.

Und das Staunen, das sich bei dem verblüffenden Können der Artisten von Essen bis Düsseldorf einstellt, spricht sich mittlerweile herum. Die Varietés erleben einen regelrechten Boom. Ob das Varieté-Theater "Luna" in Dortmund oder eben das Apollo - der Zulauf ist derart enorm, dass an einem Tag zwei Vorstellungen schon nötig sind. Zudem hat sich das im letzten Jahr gegründete "Varieté Online"-Magazin zu einer Informationsbörse entwickelt, die seitdem monatlich von 75 000 Interessierten angeklickt wird. Das Geheimnis für den Erfolg formuliert Huwer: "Bei uns erleben die Besucher ähnlich Überraschendes wie damals, als im Varieté erstmals in der Öffentlichkeit eine Glühbirne gezeigt wurde."

Guido Fischer
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