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Neues von der Reeperbahn - Konwitschny inszeniert Alban Bergs Oper «Lulu» in Hamburg - Kinderhure der feinen Gesellschaft
Hamburg (ddp). Lulu ist eine Lolita für die feine Gesellschaft: eine Kinderhure im kurzen Kleidchen, mit Zöpfen, Kniestrümpfen und Lackschuhen. Jederzeit verfügbar, willig und nur scheinbar unschuldig. Dieses Geschöpf beten die Männer an, doch diese Kinderhure bringt ihnen auch den raschen Tod. Auf spektakuläre Art inszenierte Regisseur Peter Konwitschny Alban Bergs unvollendete Oper «Lulu» an der Hamburgischen Staatsoper. Die Premiere am Sonntagabend wurde zu einem großartigen Erfolg für Sänger, Regisseur und Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher, denn Atemberaubendes spielte sich auf der Bühne und auch im Orchestergraben ab.Es ist ganz so, wie in der Herbertstraße an Hamburgs Amüsiermeile Reeperbahn: Frauen präsentieren sich in aufreizender Montur hinter Fensterscheiben, die Männer flanieren vorüber und schauen, ob für ihre Bedürfnisse etwas Passendes dabei ist. Vor dieser Szene im Hintergrund der Bühne lässt Konwitschny das Kaleidoskop der grotesken Sexualität mit und um Lulu ablaufen. Und immer wenn es ernst wird, wenn es zum Orgasmus kommt, dann klingelt es. «Ich bin für Lachen in der Oper», hatte Konwitschny zuvor gesagt.
Gleich zu Beginn des erstes Aktes wird Lulu grausam ermordet und der Regisseur erzählt ihre Geschichte im Rückblick. Lulu (großartig und mutig: Marlis Petersen) ist eine schöne Frau, eine männermordende Femme fatale, und zwar im wahrsten Wortsinn. Ihr erster Mann, ein Medizinalrat (Dieter Weller), stirbt an einem Herzinfarkt, als er seine Lulu mit einem Maler (Jürgen Sacher) in flagranti erwischt. Dieser wird ihr zweiter Mann, der sich aber selbst das Leben nimmt, nachdem Doktor Schön (Andreas Schmidt) ihm vom ausschweifenden Sexualleben der Schönen erzählt hat. Auch Schön, ihr dritter Mann, hat nicht mehr lange zu leben: Ihn erschießt Lulu.
All diese älteren Männer finden Befriedigung bei ihr - doch sie befriedigen sie nicht. Gelangweilt reißt sich Lulu ihre Kinderzöpfchen-Perücke vom Kopf. Sie beginnt ein Verhältnis mit dem Sohn ihres letzten Gatten, dem Komponisten Alwa Schön (herausragend: Albert Bonnema).
Doch ist diese Lulu ein herzloses Monster? Die Männer zerren an ihr, jeder denkt, er sei der einzige Geliebte. Doch alle sind verliebt in das Bild, das sie sich von ihr machen: die willige Verführerin. Das Bildnis der Lulu hat sich inzwischen vervielfältigt, die Männer tragen Puppen mit ihrem Aussehen herum, balgen sich um diese, reißen sie sogar entzwei und betten sie in einen gläsernen Schneewittchen-Sarg. Die Männer in ihren dunklen Anzügen fühlen sich von den Puppenkörpern stärker angezogen als von der wirklichen Lulu. Die hat sich inzwischen gewandelt in Hamburgs einst bekannteste Hure Domenica. Mit übergroßem Busen und die Peitsche schwingend hält sie nun die Männer auf Trab.
Alban Bergs zweite Oper blieb unvollendet. Darum stellt sich für jeden Regisseur zunächst die Frage, ob er das zweiaktige Fragment oder die nachträglich ergänzte dreiaktige Version spielen soll. Konwitschny entschied sich für das Fragment, hängte aber die Bruchstücke des dritten Aktes nach einem publikumswirksamen Bruch an. Nach dem letzten Ton des zweiten Aktes springt ein älterer Herr im Publikum auf, schreit «Buh, das schau\' ich mir nicht länger an» und stürmt, seine Frau hinter sich her zerrend, hinaus. Nach einer kurzen Diskussion mit der Garderobenfrau überlegt er es sich anders und kehrt unter Entschuldigungen in die fünfte Reihe zurück, um weiter zuzuschauen. «Über die Liebe», so lautet der Seufzer des Alwa Schön, «ließe sich freilich eine interessante Oper schreiben.»
Angelika Rausch
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