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Chaos im Kopf - An der Staatsoper Unter den Linden spielen hyperaktive Kinder Szenen aus ihrem Leben
Berlin (ddp-bln). Langsam, fast wie in Zeitlupe, kommen die Kinder auf die Bühne. Begleitet von ruhiger, aber spannungsgeladener Musik trägt jedes einen großen Hocker in ein stilisiertes Klassenzimmer und klettert darauf. Langsam steigert sich die Musik in Tempo und Lautstärke. Die Bewegungen der Kinder werden raumgreifender, schneller. Eines nach dem anderen löst sich aus der Gruppe, bricht aus, spielt Fußball, geht auf Händen, steigt plappernd auf den Tisch. Die anderen lassen gelangweilt die Beine baumeln, hibbelig, unkonzentriert. Den Zuschauer trifft eine Flut von Eindrücken, Unruhe. Alltag für einige der kleinen Schauspieler. Sie spielten am Mittwochabend «Hyp\'Op» an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Eine Oper über das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), an dem sie leiden.ADHS-Kranke können sich nicht konzentrieren, lassen sich von Umweltreizen immer wieder ablenken, und bringen kaum eine Handlung zu Ende. Grund dafür ist eine Dysfunktion der Botenstoffe in ihrem Gehirn. Zwei bis sechs Prozent aller deutschen Kinder sind nach Schätzungen krankhaft hyperaktiv. ADHS ist mittlerweile eine der am häufigsten diagnostizierten Kindererkrankungen. Die Betroffenen sind oft überdurchschnittlich begabt, gelten in der Schule jedoch als Störenfriede und Leistungsverweigerer. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Sie neigen eher zu Hyperaktivität, Mädchen zu Aggressivität.
Wie Kreisel wirbeln die Jungen zu Percussion-Klängen über die Bühne - immer schneller, immer wilder. Die Musik schwillt an. Die Jungen drehen sich - bis zum Zusammenbruch. Aufgeregt geht ein Mädchen durch den Raum. «Ich will das nicht mehr», ruft sie aufgebracht. Sie beginnt zu laufen, ihre Stimme wird immer lauter, bis sie schließlich schreit: «Ich hasse euch. Haut ab!»
Die Idee zu «Hyp\'Op» wurde im vergangenen Jahr gemeinsam mit Medizinern, Musiktherapeuten und Pädagogen entwickelt. Dabei sei es nicht um Therapie gegangen, sondern darum, das kreative Potenzial der Kinder mit Musik und Theater anzusprechen und die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, sagt Dramaturgin Ilka Seifert.
Weltweit schlucken heute rund zehn Millionen Kinder das Beruhigungsmittel Ritalin gegen ADHS-Symptome. Auch in Deutschland wird die umstrittene Pille immer häufiger verabreicht. Nach Meinung von Befürwortern macht Ritalin häufig eine Therapie der kranken Kinder erst möglich. Kritiker befürchten die Ruhigstellung auffälliger, aber eigentlich gesunder Kinder. Denn die Diagnose ist schwierig - die Grenzen zwischen gesund und krank sind fließend.
Sechs Monate lang hat Regisseurin Adriana Altaras mit vier hyperaktiven Viertklässlern und ihren «normalen» Klassenkameraden geprobt. Dabei habe sie «klassisch gearbeitet», sagt die Regisseurin. In Improvisationen kristallisierten sich die zentralen Themen des Stückes heraus: Erziehung, Lautstärke, Bewegung, Unruhe, Streit, Kampf, Impulsivität. Parallel zu der szenischen Arbeit entwickelte die Komponistin Juliane Klein eine eigene Partitur. Im Grunde bestehe das Stück aber «aus dem Chaos in den Köpfen» der Kinder, sagt Altaras.
Ein Chaos, das «total Spaß» macht, findet einer der Jungen nach der Aufführung. Für ihn ist Hyperaktivität kein Problem. Einige spielen und toben eben mehr, andere weniger, meint er. Dass es nicht immer so leicht ist, zeigen jedoch die Fälle von zwei anderen ehemaligen «Hyp\'Op»-Darstellern. Sie fehlen bei der Premiere. Einer der Jungen ist zwischenzeitlich in ein auf Hyperaktive spezialisiertes Internat gekommen. Ein anderer wurde wegen der Erpressung von Mitschülern der Schule verwiesen.
«Hyp\'Op» könne zwar ein Modell sein, räumt ein Neurologe nach dem Stück ein. Die meisten ADHS-Kranken müssten aber ohne so ein Projekt auskommen, gibt er zu bedenken. Für diese sei Ritalin wichtig, damit sie sich nicht «dissozial» entwickelten. Konrektorin Martina Luckwald von der Kreuzberger Charlotte-Salomon-Grundschule, an der die jungen Darsteller lernen, ist sich jedoch sicher: «Kinder brauchen viel mehr als eine Pille.» Opern-Intendant Peter Mussbach will das Projekt fortführen.
Svenja Kühnel