Frankfurt/Main - Das oberste Stockwerk eines mittelalterlichen Wehrturms am Rande des Frankfurter Ballermann-Viertels Alt-Sachsenhausen ist (mindestens) Hessens kleinster Konzertsaal. Maximal 30 Zuhörer passen ins Musikzimmer im sogenannten Kuhhirtenturm, der weder mit Kühen noch mit Hirten, dafür umso mehr mit dem Komponisten Paul Hindemith (1895-1963) zu tun hat, der vor 50 Jahren (28. Dezember 1963) starb.
Der nämlich wohnte und komponierte zwischen 1923 und 1927 in diesem Turm - zusammen mit seiner Frau, seiner Mutter und seiner Schwester. Bevor der Komponist einziehen konnte, musste er renovieren, denn der mittelalterliche Wehrturm aus dem 14. Jahrhundert war eine Ruine. Das Geld für den Umbau verdiente er sich mit einer Auftragskomposition: einem Klavierkonzert (nur) für die linke Hand. Auftraggeber war ein Wiener Pianist, der im Krieg einen Arm verloren hatte - der Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein.
Es seien schon «kuriose Wohnverhältnisse» gewesen, gibt Susanne Schaal-Gotthardt zu, Direktorin des Hindemith-Instituts. In jeder Etage gab es ein einziges Zimmer: die Mutter unten, die Schwester in der Mitte, der Komponist und seine frisch angetraute Ehefrau unterm Dach. Bad unten und Küche oben nutzen alle gemeinsam. Heute beherbergt der Turm eine Dauerausstellung im ersten und zweiten Stock, einen Raum für Wechselausstellungen im dritten Stock und ein Musikzimmer für Kammerkonzerte im Dach.
Aus der hohen Spitze des Turms hängt ein moderner Kronleuchter über einem Flügel. An den Wänden hängen Bilder und Karikaturen, die Hindemith selbst gemalt hat. An Musikern, die bereit sind, vor so wenigen Menschen zu spielen, herrsche kein Mangel, sagt Schaal-Gotthardt. Sie schätzten «die familiäre, intime Atmosphäre» im Turm und akzeptierten dafür auch «dass ihnen das Publikum ganz genau auf die Finger schauen kann». Wer sich angemeldet hat, wird kurz zuvor angerufen oder angeschrieben und an den Termin erinnert, damit keiner der begehrten Plätze frei bleibt.
Wie hat man denn den Flügel da hochgeschafft? Viele Besucher fragten das, sagt eine Dame, die durch das Museum führt. Beim Umbau 2010 wurde das Dach «wie der Deckel vom Topf» abgenommen, auf den Boden gestellt, der Flügel mit einem Kran hineingehoben und das Dach wieder drauf gesetzt. Hindemith spielte auf einem anderen Instrument, das - zusammen mit bis heute verschollenen Kompositionen - im Zweiten Weltkrieg im Turm verbrannte. Der Komponist war 1927 nach Berlin umgezogen, Mutter und Schwester lebten bis zu seiner Zerstörung 1943 im Kuhhirtenturm.
In den 1950er Jahren nutzte die nahe gelegene Jugendherberge den Turm als Lagerraum. Dass der Turm - in dem vor Hindemith tatsächlich einmal Kuhhirten wohnten - zum Museum umgebaut wurde, war auch der Versuch, das Viertel Alt-Sachsenhausen kulturell aufzuwerten. Die Lage sei schon «eine Herausforderung», seufzt Schaal-Gotthardt. Am Sonntagmorgen, wenn das Museum öffnet, sei die Treppe oft von Pizzaresten verklebt und auf den Stufen lägen zerschlagene Flaschen.
Sandra Trauner