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Uraufführungen beim «musica viva festival»

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Vom klingenden Boxsack bis zur Klangpfanne - Zwei spektakuläre Uraufführungen beim Münchner «musica viva festival»


München (ddp-bay). Moderne Komponisten geben sich selten mit dem klassischen Instrumentarium eines Sinfonieorchesters zufrieden. Sie suchen nach neuen Klangstrukturen und greifen dabei schon mal auf ganz profane Alltagsgegenstände zurück, denen die Musiker nach ihren Anweisungen ungewohnte Töne entlocken. Beim ersten «musica viva festival» war am Freitagabend in der ausverkauften Münchner Muffathalle vermutlich weltweit erstmals ein «klingender Boxsack» zu hören, der von einem Halbschwergewichtler traktiert wurde. Die Uraufführung des Stücks «Boxgesang über 12 Runden» der deutschen Musikperformer Michael Lentz und Uli Winters wurde vom Publikum, das um den erhöhten «Boxring» herum gruppiert war, mit wohlwollendem Beifall bedacht.

Die Boxhandschuhe des Profisportlers Tim Kerger waren auf komplizierte Weise mit dem präparierten Boxsack verkabelt, so dass jeder Schlag verschiedene akustische Ereignisse auslöste. Nach Art von Boxtrainern feuerten die beiden Musikperformer den Sportler vom Rand des Rings mit zungenbrecherischen Sprechsalven an. Zum Links-rechts-links-Stakkato des Boxers spielte ein Orchester aus Piccoloflöten, Bassklarinetten, einer E-Gitarre und Schlagzeug eine Musik, die gelegentlich an Heavy-Metall erinnerte. Dazu imitierte der «Beatboxer» Dalibor mit seinem Mund täuschend echt Schlagzeug- und Percussionsgeräusche.

Das Ganze sollte «eine musikalisch-szenische Hommage an den Boxsport» sein, betonte Lentz in der Festivalzeitung. «Wenn jemand diesen Sport über Jahre richtig gelernt hat und auch professionell ausübt, verfolgt er immer auch eine ganz bestimmte Choreographie.»

Die in Rumänien geborene, deutschstämmige Komponistin Adriana Hölszky hatte für die Uraufführung ihres neuen Werks «Countdown» ebenfalls ein äußerst ungewöhnliches «Orchester» zusammengestellt. Es bestand aus acht Alphörnern, vier Trompeten, vier Posaunen, vier Konzertflügeln und acht Schlagzeugern mit jeweils bis zu 40 Percussion-Instrumenten. Die Palette reichte von der gewöhnlichen Trommel bis zum «chinesischen Tempelblock» und einer schmiedeeisernen «Klangpfanne», mit der man durchaus auch ein Spiegelei hätte braten können.

Zu den mal kompakt-aggressiven, mal durchaus lyrischen, aber immer dunkel grundierten Klängen des Ensembles trug der in der Saalmitte auf einem Podest postierte Countertenor Daniel Gloger Passagen aus dem Tagebuch eines Obdachlosen mit dem Pseudonym «Ver du Bois» (Holzwurm) vor. Dabei zog er alle Register menschlicher Lautäußerungen: Er wechselte in kürzester Zeit von hoher zu tiefster Lage, schrie, schnaufte, brummte, stieß mit flatternder Hand vor dem Mund ein regelrechtes Indianergeheul aus, pfiff, scharrte mit den Füßen oder schlug mit der Hand auf das Notenblatt.

Der Alkoholiker «Ver du Bois» schildert in seinen Erinnerungen seine Odyssee durch die Obdachlosenasyle Österreichs. Eine Geschichte, die so gar nicht zum Klischee der Alpenrepublik passte, deren heimelig-romantische Bodenständigkeit Hölszky mit den Alphörnern symbolisierte. «Das ist natürlich doppelbödig, ironisch gemeint», sagte die Komponistin in der Festivalzeitung. «Ich habe es so komponiert, dass kein einziger Ton erklingt, der als der eines Alphorns zu erkennen wäre. Es wird darauf gekratzt, hineingesprochen oder -geatmet. Das klingt dann wie elektronische Musik, weil Alphörner mit ihren riesigen Resonanzkörpern die Geräusche von selbst verstärken.»

Das «szenische Konzertstück» wurde von dem Dirigenten Rüdiger Bohn koordiniert, der vor sich die riesige Partitur Adriana Hölszkys liegen hatte - wie der «Boxgesang» ein Auftragswerk des noch bis 15. Februar dauernden «musica viva festivals». Die Künstlerin wurde nach Ende der Aufführung, zusammen mit Sänger Gloger und dem gesamten Ensemble, mit viel Beifall bedacht.


Georg Etscheit
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