Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einem belebten Straßencafé. Eine Vielzahl von Geräuschen dringt auf Sie ein – startende Motoren, laute Fahrradklingeln, Stimmen von Passanten, klirrendes Geschirr, Beschallung von der Theke her, Hupen, Rufe, Trampeln, Gelächter, quietschende Bremsen. Jetzt gerade fährt ein Mittelklassewagen vorbei, auf der linken Spur, zehn Meter entfernt, Sie erhaschen etwa 1,5 Sekunden lang durchs geöffnete Autofenster ganz leise einen Hauch der Musik aus dem Autoradio. Aber: Sie erkennen den Song! – Wie ist das überhaupt möglich? Wie kann es sein, dass Sie in diesem Tohuwabohu der Schallwellen, die ja nur kleine Schwankungen des Luftdrucks sind, noch ein bestimmtes Musikstück wahrnehmen können?
Die neuronale Übersetzung
Offenbar sind wir in der Lage, im Gemenge der auf uns einströmenden Schallwellen winzige Details wiederzuerkennen, unser Gehör im Nu „scharf“ auf sie einzustellen und so einen musikalischen Komplex zu isolieren, der „eigentlich“ doch gar nicht hörbar sein dürfte. Wie gelingt uns das? Anders als Hasen oder Hunde, die bewegliche Ohren haben, können wir die unseren ja nicht gezielt auf eine Schallquelle hin ausrichten. Die Erkennung, Isolierung, Verstärkung einzelner Schallreize findet allein in unserem Gehirn statt. Der Physiologe Hermann von Helmholtz (1821–1894) hat als einer der Ersten klar zwischen dem Hörreiz und der Hörwahrnehmung unterschieden. Das Ohr liefert Unmengen von Eindrücken, die dann vom Gehirn gefiltert und interpretiert werden müssen. Was wir zu hören glauben, ist nicht die Schallwelle selbst, sondern ihre Übersetzung in Nervenimpulse. An der Cochlea („Hörschnecke“) im Innenohr sind tatsächlich nur wenige Tausend Nervenzellen aktiv. Folgt man der „Hörbahn“ aber weiter, werden es immer mehr: Der einfache Hörreiz führt zu einer ständig komplexeren Hörwahrnehmung. Am Spiralganglion sind es schon Zehntausende von Neuronen, am Colliculus inferior Hunderttausende. Wenn die Impulse schließlich den auditorischen Cortex erreichen – den „Hörsektor“ im oberen Teil des Schläfenlappens der Hirnrinde –, warten dort etwa 500 Millionen Nervenzellen darauf, die Reize zu verarbeiten.
Unser Innenohr funktioniert dabei ähnlich wie ein Mikrofon. Ein physikalischer Reiz – ausgelöst von der Schallwelle – wird dort in einen elektrischen Impuls übersetzt. Man nennt dies eine mechanoelektrische Signaltransduktion. Was wir schließlich wahrnehmen, ist weder der wirkliche Klang noch eine mechanische Kopie davon. Vielmehr kreiert das Gehirn eine neuronale „Repräsentation“ des Klangs. Aus elektrischen Nervenimpulsen, die in der Hörbahn bereits mehrfach vorbearbeitet wurden, generiert es für uns eine synthetische Vorstellung des Schalls. Die Musik, die wir zu „hören“ glauben, findet tatsächlich ganz in unserem Kopf statt. Jeder Musikhörer ist beim Hören auch Musikschöpfer: Sein Gehirn verleiht den eingehenden Signalen Sinn, Struktur und Farbe, es erkennt Muster und Zusammenhänge. Vielleicht hört jeder von uns ein und dasselbe Musikstück ganz verschieden.
Die Fähigkeit, kleine Luftdruckschwankungen, die an unser Ohr dringen, akustisch zu interpretieren und ihnen stringente Abläufe zu entnehmen, haben wir nicht im Konzertsaal erworben und auch nicht im Straßencafé. Diese Fähigkeit bildete sich vielmehr über einen Zeitraum von Millionen von Jahren heraus. Für unsere Vorfahren, die Urmenschen, war der Hörsinn überlebenswichtig, er war ihr „Nachtauge“, sicherte ihren Beuteerfolg – und dass sie nicht selbst zur Beute wurden. Schon Friedrich Nietzsche ahnte: „Das Ohr, das Organ der Furcht, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so entwickeln können, wie es sich entwickelt hat.“ Denn jedes Knis-tern und Rascheln im Dunkeln musste der Urmensch „interpretieren“, um Gefahren zu bemerken und die Sippe schützen zu können. Wir kennen diesen Reflex: Wenn wir in fremder Umgebung einschlafen wollen, werden wir auf viele ungewohnte Geräusche aufmerksam. Auch beim Musikhören kann unser Gehirn gar nicht anders, als ständig nach Zusammenhängen, Wiederholungen und logischen Abläufen zu forschen. Wir bemühen dabei metaphorische, sprachliche, emotionale Techniken der „Entschlüsselung“. Wir haben deshalb den Eindruck, dass Musik räumlich ist, Gefühle transportiert oder „zu uns spricht“.
Training fürs Gehirn
Wenn wir Musik hören, liefert uns das Gehirn nicht nur die klangliche Repräsentation oder kreative Darstellung, sondern ist in vielfältiger Weise beteiligt. Denn dank der komplexen Vernetzung der Neuronen erreicht Musik augenblicklich praktisch alle Areale des Gehirns. Vom auditiven Kortex springen Impulse über ins limbische System und lösen Emotionen aus – das können Angstreflexe oder Glücksgefühle sein. Musik aktiviert Erinnerungen, mobilisiert Körperfunktionen, reizt unser Sprachvermögen. Die elektrischen Nervensignale steigern sich zu Kaskaden und Feuerwerken. Die Impulsfunken flackern in allen Hirnwindungen. Unser Gehirn schaltet auf Alarmstufe Rot. Dass Musik diese durchschlagende, wachrüttelnde Wirkung hat, hängt vermutlich mit der archaischen Warnfunktion des Hörens zusammen.
Musik manipuliert
Die Wahrnehmung von Musik schickt Nervenimpulse praktisch in alle Hirn-areale und stärkt so die neuronalen Verbindungen zwischen ihnen. Musik ist daher das beste Fitnesstraining fürs Gehirn. Musik fördert unsere Fähigkeiten der Koordination, der räumlichen Vorstellung, der funktionalen Planung. Musik trainiert auch die Hirnareale für Gedächtnis, Sprache und Einfühlungsvermögen. Musik wirkt direkt auf Herzschlag, Blutdruck und Kreislauf und unterstützt die physisch-psychische Balance. Musik kann Schmerzen lindern, Depressionen dämpfen, den Stresshormonspiegel senken. Musik schließt die Seele auf, lockert emotionale Panzerungen und reguliert das Wechselspiel von Gefühlen, Erinnerungen und Verdrängungen. Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei ausübenden Musikern festzustellen. Nach den Erkenntnissen der Neuropsychologie entwickeln Musiker einen verstärkten Hirnbalken, das heißt: Die beiden Hirnhälften vernetzen sich besser, Ratio und Emotion wirken enger zusammen. Vielleicht sind das Musikmachen und Musikhören sogar eine Notwendigkeit für uns, damit das Netz unserer Nervenschaltungen im Gehirn dauerhaft funktionieren kann. Der Astrophysiker Harald Lesch meinte einmal: „Ich bin mir übrigens ganz sicher, dass außerirdische Zivilisationen auch Musik machen, denn: Komplexe Gehirne brauchen Musik.“ Die neuronale Wirkung von Musik ist mächtig und manipulativ – wir können uns dagegen nicht wehren. Ihre Effekte können dabei ganz unterschiedlich sein: aktivierend oder deaktivierend, heilend oder schädlich, einschläfernd oder aufputschend. Musik kann motivieren und leistungssteigernd wirken, etwa bei Sportlern, uns aber auch nervös und unruhig machen. Sie unterstützt emotionale Aufwallungen, zum Beispiel als Film-Soundtrack oder Nationalhymne, oder wirkt entspannend, zum Beispiel als Fahrstuhl- oder Meditationsmusik. Unter Umständen kann sie sogar zu Apathie und Willenlosigkeit führen. Musiktherapie wird heute bei vielen psychischen Leiden eingesetzt – Traumen, Psychosen, Phobien –, ebenso bei neurologischen Schädigungen wie Parkinson, MS oder Aphasie. Auch bei organischen Erkrankungen mit psychosomatischem Anteil kommt Musik zum Einsatz, etwa bei chronischen Schmerzen, Essstörungen, Bluthochdruck, Migräne, Tinnitus, selbst Rheuma.
Weil das Hören seit Urzeiten ein „Warnsinn“ ist, dient es gleichermaßen auch der „Entwarnung“. Wenn es nur gewohnte, friedliche, familiäre Geräusche zu hören gibt, entspannt uns das: Alles ist in Ordnung. „Das Ohr ist unser Aktivations- und Deaktivationssinn“, sagt der Hörfunk-Spezialist Manfred Mixner. „Wir werden wach, angeregt, aufmerksam durch ganz bestimmte Klangfolgen, und andere Klangfolgen beruhigen uns, schläfern uns ein, bringen uns zum Träumen, usw.“ Musik, die uns gefällt, die zu unserer Stimmung passt oder die wir mögen, löst Glücksgefühle aus. Wie der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer schreibt, stimuliert Musik „das körpereigene Belohnungssystem, das auch durch Sex oder Rauschdrogen stimuliert wird und das mit der Ausschüttung von Dopamin [...] und von endogenen Opioiden [...] einhergeht. Umgekehrt wird durch angenehm empfundene Musik die Aktivierung zentralnervöser Strukturen, die unangenehme Emotionen wie Angst oder Aversion signalisieren, gemindert. Musik, die der Hörer mag, wirkt damit gleich auf doppelte Weise angenehm.“
Streng genommen ist Musik also eine psychoaktive oder psychogene Substanz – die älteste Droge der Welt. Im Unterschied zu chemischen Drogen wie Alkohol, THC, Nikotin oder Koffein erreicht sie unser Gehirn aber nicht über den Blutkreislauf, sondern übers Ohr, also auf dem kürzesten Weg. So wie wir in Stresssituationen zu Zigarette, Kaffee oder Schokolade greifen, kann unser Gehirn nach dem Psycho-Doping der Musik verlangen. Klänge sind ein wichtiges „Gleitmittel“ fürs Gehirn, um emotionale Befindlichkeiten zu wechseln. Viele von uns haben eine Lieblingsmusik, die sie immer wieder hören wollen, etwa wenn sie traurig sind, wenn sie sich besonders wohl fühlen oder bei bestimmten Gelegenheiten und Tätigkeiten. Manche von uns können sich den Weg in die Arbeit ohne Autoradio oder Ohrstöpsel gar nicht mehr vorstellen. In gewissen Gruppen der Jugendszene ist eine fast pausenlose Musikbeschallung Pflicht – sei es mit HipHop, Techno oder Heavy Metal. Durch die wiederholte Einwirkung von Musik auf das Nervensystem kommt es dabei zu Anpassungsprozessen, bei denen die Rezeptorendichte im Gehirn zunimmt. Es ist dann mehr Musik notwendig, um eine gleich bleibende Wirkung zu erzielen, was bei Drogen als Toleranz- und Suchtentwicklung bezeichnet wird. Unser sogenannter Musikgeschmack beruht zu einem großen Teil auf diesem neuronal-hormonellen Gewöhnungs- und Suchteffekt.
Die Trance-Wirkung
Neben den „kleinen Ekstasen“, die das regelmäßige Konsumieren der Musikdroge bietet, gibt es auch die „große Ekstase“ – außerordentliche Rausch- und Trancezustände, die von Musik ausgelöst oder befördert werden können. Solche das Gehirn manipulierenden Effekte bedürfen freilich einiger Übung und meist einer langen kulturellen Tradition. Auch Schlaf- und Wiegenlieder zum Beispiel bedienen sich einer seit Zehntausenden von Jahren bewährten Methode, die Gehirnströme von Kindern so zu beeinflussen, dass sie müde werden. Das Ganze funktioniert übrigens auch in der Gegenrichtung: Therapeuten haben mit Musik schon Patienten aus dem Koma geholt. Schamanen, Sufi-Mönche oder Voodoo-Gläubige tanzen sich zu Musik regelmäßig in einen Bewusstseinszustand der Trance oder Ekstase. Ein Mensch in Voodoo-Trance beginnt zu lallen, verdreht die Augen, wälzt sich im Staub, ist nicht mehr ansprechbar. Das kann über Stunden anhalten und lebensgefährlich sein. Die Trance-Induktion durch Musik und Tanz ist eine komplexe Psychotechnik, die daher sorgsam tradiert und gelehrt wird. Im Kern beruht die Trance-Wirkung auf der variierenden Wiederholung, der musikalischen Sequenz. Ein klarer Rhythmus und eine dabei kaum sich verändernde Melodie oder Tonhöhe: Das ist – der Neurowissenschaft zufolge – das Grundrezept.
Es muss nicht der rhythmische Donner von Voodoo-Trommeln oder einer Rave-Party sein. Auch der federnde Puls eines Johann Sebastian Bach oder der rhythmische Schwung von Beethovens 7. Sinfonie können starke psychogene Kräfte besitzen. Wenn der Rhythmus einer Musik als Nervensignal im Gehirn ankommt, wirkt er sich dort direkt auf die Impulse des vegetativen Systems aus: auf Atem und Herzschlag. Zusätzlich schwingen wir uns als Hörer ganz bewusst auf den Rhythmus ein: durch Kopfnicken, Schunkeln, Schaukeln, Fußwippen, Fingerschnippen – und natürlich das Tanzen. Diese Verknüpfung von Musik- und Körperrhythmus kann im Gehirn geradewegs zu „Rückkopplungen“ führen und Rauschzustände, Ekstasen oder Ohnmachten auslösen.
Bestimmte Faktoren der Musik vermögen diese Rückkopplung zwischen musikalischem Rhythmus und Körperrhythmus noch zu erhöhen: große Lautstärke, starke Bassfrequenzen, deutliche Steigerungen, insistierende Muster, kleine Tonumspielungen, kleine Melodieschritte, eine etwas längere Stückdauer. Wir alle kennen psychogen wirksame Musikarten, deren Konsum gerne auch mit anderen Drogen kombiniert wird: psychedelischer Rock, Techno-Hymnen, indische Ragas, Sambatrommeln. In der Geschichte haben die Rhythmen neuer Modetänze immer wieder Massenhysterien ausgelöst. Ob Veitstanz, Tarantella, Walzer, Polka, Tango, Charleston oder Cha-Cha-Cha: Das Gehirn liebt den hypnotischen Effekt, der aus der Synchronisierung von Rhythmus und Körperrhythmus entsteht.
Sich bewegen zu Musik bringt immer ein Stück Ekstase in unseren Alltag.