„Dieses intellektuelle Leben schwebt, wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gärung entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen vom Willen geführten Leben der Völker – und neben der Weltgeschichte geht schuldlos, und nicht blutbefleckt die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste.“
Diesen Nachsatz aus Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ hat Hans Pfitzner seinem „Palestrina“ als Motto vorangestellt. Doch so schön sich dieses Credo im Lichte romantischer Idealisierung liest, so fragwürdig ist es auch. Zumal sich gerade Pfitzner mit seinen chauvinistisch-antisemitischen Tiraden dem NS-Regime angedient – und sogar dem „Polen-Schlächter“ Hans Frank noch 1945 geradezu „Nibelungentreue“ bekundet, den Holocaust verharmlost hat. „Blutbefleckt“ war Pfitzner nicht, aber ganz „schuldlos“ keineswegs. Abgesehen davon waren die Künste nie völlig dem realen Leben entrückt. Thron und Altar, Adel und Besitzbürgertum, Markt und Kommerz, Kapital und Institutionen aller Art haben die Kultur alimentiert, aber auch beeinflusst, ja manipuliert. Und die marxistische Pauschalformel: „Die herrschende Kultur ist die Kultur der Herrschenden“ wurde nicht zuletzt unter den Doktrinen des „Sozialistischen Realismus“ fatal praktiziert. Die Kraft von Kunst wie Künstlern bewährte sich nicht zuletzt darin, wie sie der Vereinnahmung widerstanden.
Drei Kulturinstitutionen reagierten durchaus polar auf die Zeitläufte: die Salzburger Festspiele, die Donaueschinger Musiktage, entstanden vor hundert Jahren, und die nmz, entstanden vor siebzig Jahren. Wobei das Salzburg-Festival eindeutig im Zeichen der Restauration stand. Den Gründern Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und Max Reinhardt ging es darum, den Millionen Toten des Ersten Weltkriegs, den materiellen wie mentalen Verwüstungen eine heile Gegenwelt abendländischer Höchst-Kultur entgegen zu stellen. Nicht nur das Wahre, Schöne, Gute schlechthin sollte es sein, sondern das Beste gerade gut genug. Also nicht die strittige Moderne: „Nur keine Experimente“. Dass es da grandiose Aufführungen gegeben hat, sei unbestritten. Doch am erhabenen Kanon war nicht zu rütteln. Nicht zufällig avancierte Hofmannsthals „Jedermann“ von 1920 bis heute zum bigotten Leit-Stück – und spottete schon Karl Kraus: „Herr, gib uns unser täglich Barock“.
Als ein Jahr später die ersten Donaueschinger Musiktage stattfanden, war die Devise nicht minder klar: Das Neue war gefragt, international und risikofreudig; sogar erste Jazzanklänge tauchten bald auf. Historistische Klassiker-Feier war hier nicht mehr möglich. Die Auseinandersetzung mit dem Heute wurde zentral. Entsprechend stand auch die 1952 als „Musikalische Jugend“ gegründete „Neue Musikzeitung“ nicht für Traditionspflege, den Kult mit „bleibenden Werten“, sondern für den aktuell kritischen ästhetischen Diskurs. Schon 1945 waren die Münchner „musica viva“ entstanden, 1946 die Darmstädter Ferienkurse gegründet, bald internationalisiert – und der Kölner WDR avancierte mehr und mehr zum Avantgarde-Zentrum. Donaueschingen verlor ein wenig sein Alleinstellungsmerkmal, während sich die Bundesrepublik aufgrund des föderalistischen ARD-Systems schier zum gelobten Land der neuen Musik entwickelte. Damit erweiterte sich u auch der Aktionsradius der nmz, die eine wichtige Vermittlerrolle übernahm, abgesehen natürlich von ihrer Basis-Funktion als Verbandsorgan für Jeunesses Musicales und Tonkünstler-Bünde.
Ein Forum konservativer Selbstvergewisserung war die nmz nicht: Die jeweils jüngste Produktion aber auch das politisch-soziale Umfeld standen im Fokus. „Zeitlos“ und „bleibend“, beliebte Vokabeln der Traditionalisten, fanden sich kaum. Was nicht ausschloss, dass noch in den fünfziger Jahren bisweilen reaktionäre Redensarten („Dekadenz“, „Enthumanisierung“) auftauchten: Ganz gradlinig war der Fortschritt auch hier nicht. Doch die Politik kam quasi durch die Hintertür in die Tonkunst: 1953 schrieb noch Reiner Bredemeyer in der nmz über das Festival in Aix en Provence; ein Jahr später übersiedelte er in die DDR, wurde dort einer der eigenständigsten Komponisten.
Aber schon 1954 wurde aus New York über Cages „prepared piano“ und „construction in metal“ berichtet, und 1956 aus Donaueschingen über das Hommage-Divertimento für Mozart, mit Luciano Berios Beitrag, ebenso über Messiaens „Oiseaux exotiques“ Berührungsängste gab es natürlich nach wie vor, doch wurden sie durch Gegen-Öffnungen aufgehoben. Und das Widerspiel zwischen Avantgarde und Engagement blieb ein Motor des Diskurses. Nonos „Intolleranza“ 1961 in Venedig geriet zum Schlüsselwerk, nicht minder der Zusammenhang zwischen Lenz’ und Zimmermanns „Soldaten“. Das „Instrumentale Theater“ wurde thematisiert, zugleich Zimmermanns „Kugelgestalt der Zeit“ – Stil-Öffnung. Und stets war der Blick auch nach Osten gerichtet, zum „Warschauer Herbst“ wie zu Paul Dessaus „Puntila“.
Die politische Position der nmz wäre mit „linksliberal“ zu umschreiben, wozu auch dezidierte Kontroversen gehörten, die ab Mitte der siebziger Jahre an Brisanz gewannen. Von „prästabilisierter Harmonie“ des Kulturbetriebs konnte keine Rede mehr sein, erst recht nicht mehr in der Moderne. Boulez’ legendäres „Spiegel“-Interview provozierte heftige Reaktionen, analog Henzes spektakuläre Manifestationen („Floß der Medusa“, Zweites Klavierkonzert). Wer sich ernsthaft mit Musik, Kunst überhaupt beschäftigte, geriet in ideologische Turbulenzen verschiedenster Art, die in den Kommentaren und Gesprächen der nmz ihren Widerhall fanden. „68“ mag für manche heute weit zurückliegen; aber damals stand es für Umwälzungen, die zum Teil bis heute nicht abgegolten sind. Exemplarisch waren die heftigen Auseinandersetzungen über die Darmstädter Ferienkurse, die zum regelrechten Kulturkampf führten: Jüngere Teilnehmer, auch Journalisten kritisierten das „Establishment“ alter verdienstvoller Männer, denen es um Bestandswahrung ging, und die weniger bereit waren, widerstrebende politische Aktivitäten, auch der amerikanischen Avantgarde, zu integrieren.
Emanzipationsbestrebungen
Die Wogen gingen hoch, es kam sogar zum Clinch zwischen FAZ und Frankfurter Rundschau, und auch die nmz wurde zum Forum der Opposition. Und Komponisten, die lange von den Traditionalisten als Kulturzerstörer geschmäht worden waren, vor allem Stockhausen, Kagel und Ligeti, fühlten sich plötzlich von links attackiert, witterten „Kultur-Revolution“ wider (ihre) Kunst schlechthin. Verletzungen erzeugten Ressentiments, die Reaktionen eskalierten.
Zu den Emanzipationsbestrebungen der 68er gehörte denn auch das Misstrauen gegenüber editorischen Großmächten. So entstand in Frankfurt und Köln die Idee eines autonomen, nicht merkantil profitorientiert operierenden Musikverlags. Vorbild war der Frankfurter (Theater)Verlag der Autoren, der ebendiesen „gehörte“ - und bis heute Bestand hat. Aber Texte, welcher Art auch immer, zu edieren oder Partituren, gar Orchester-Stimmen zu drucken, sind verschiedene Aufgaben. Die lockere Frankfurter quasi Kooperative aus Komponisten, Interpreten, Wissenschaftlern und Publizisten begriff bald, dass dies schon rein technisch die Möglichkeiten eines so kleinen Printbetriebs überstieg. Es blieb also bei der Utopie.
Erfolgreicher war die Initiative dreier Kölner Komponisten um Johannes Fritsch aus dem Stockhausen-Umfeld mit dem „Feedback“-Projekt: mit Notendruck, Produktionsstudio, eigenen Veranstaltungen und den „Feedback -Papers“, die immerhin von 1970 bis 2010 existierten.
Dass die neue musikzeitung zum Austragungsort gravierender Kontroversen werden konnte, hing mit einem gleich doppelten Sonder-Status zusammen. Zunächst einmal waren die Musik-Zeitschriften kaum einmal wirtschaftlich unabhängig, sondern oft Sprachrohr von Institutionen verschiedenster Art, nicht zuletzt großer Verlage: Die Neue Zeitschrift für Musik, „Melos“ und „Das Orchester“ erschienen im Mainzer Schott-Verlag, „Musica“ bei Bärenreiter. Das bedeutete ein solides wirtschaftliches Fundament, damit aber auch die Einbindung in die Geschäfts-Interessen des Mutterhauses, das die publizistische Aktivität auch im Sinne der eigenen Produktion verstand. PR-Strategien waren da nicht auszuschließen, galt es doch auch, die „hauseigenen“ Komponisten zu propagieren, was in Anbetracht der erheblichen Aufwendungen nicht unverständlich war. Auch wenn kluge Verleger immerhin bedacht waren, ihre Periodika nicht primär zu Werbezwecken einzusetzen. Aber eine gewisse Dominanz blieb, verengte das ästhetische Spektrum. Die editorische Ungebundenheit kam der nmz zugute, die so auch querfeldein argumentieren konnte, nicht auf verlegerische Interessen Rücksicht nehmen musste.
Ein weiterer erheblicher Vorteil war der Zeitungscharakter, der nicht nach Glanzpapier, Farbdruck und langwierig-kostspieliger Herstellung verlangte: eben aktueller Zeitungsproduktion. Die Aktualität hat dies erheblich befördert, und selbst zeitnahe Veranstaltungen konnten so schon in der nächsten Ausgabe besprochen werden. Bedenkt man, mit welch bisweilen wochen- ja sogar monatelanger Verspätung wichtige Ereignisse in manch altehrwürdigen Zeitschriften rezensiert wurden, wird evident, dass Schnelligkeit eine hohe Qualität sein kann. Wobei die Fortschritte der Elektronik das Veröffentlichungs-Tempo insgesamt enorm beschleunigt haben.
Von der Verlags-Neutralität wie der wenig komplizierten Zeitungs-Herstellung hat die nmz profitiert. Ab den siebziger Jahren wurde der Themen-Fächer noch weiter, auch die Lust an Kontroversen größer. Manches kam gleichzeitig in Bewegung. So formierte sich der „Euro-Kommunismus“ als italienisch-französisch-spanische Absetzbewegung von der Moskauer Orthodoxie: Die Mailänder Uraufführung von Nonos „Al gran sole“ wurde zum Schlüsselwerk einer Fusion von Avantgarde und linkem Protest. Die diversen orchestralen „Mitbestimmungsmodelle“ beförderten die Diskussionen über „direkte“ Demokratie auch in der Musik. Während Kagel immer mehr entdeckte: „Mein Metier ist die Tradition“.
Stuttgarter Kontroverse
Alt gegen Neu bestimmte 1983 auch die heftige Stuttgarter Kontroverse zwischen Henze und Lachenmann. Doch die Pariser Uraufführung von Messiaens „Franziskus“-Oper ließ selbst atheistische linke Musik-Radikale sanfter werden. Stockhausens siebentägiger „Licht“-Zyklus wurde ambivalent rezipiert, als Messianismus abgelehnt, musikalisch zähneknirschend akzeptiert.
Viel passierte 1988: Henze gründete die Münchener Musikbiennale, Abbado „Wien Modern“. Und die Frankfurter Uraufführung von Cages „Europeras“ wurde zur Destruktions-Hommage an die gute, alte Oper. Fast noch erschütternder wirkte 1997 Lachenmanns Hamburger „Mädchen mit den Schwefelhölzern“: arm macht reich.Aber es ging nicht nur um die großen Institutionen wie Innovationen: Rock in der DDR wurde noch einmal zum Thema, der „Dirigent“ problematisiert. Und die quasi neo-deutschnationale Ausrichtung einiger Granden der Geisteswissenschaften (Safranski, Bermbach, Borchmeyer) gab Anlass zu einiger grundsätzlicher Skepsis. Doch die nmz beschränkte sich nicht auf die Print-Sphäre. An der Radiosendung „taktlos“ wie am Karlsruher „Lern-Radio“ war sie an neuen musikpublizistischen Vermittlungsformen beteiligt.
Die nmz war reaktionsfreudig, in den Leitartikeln auch durchaus polemisch gegen die fortschreitende Kommerzialisierung und Bürokratisierung der Kultur; dies allerdings ganz ohne manch obligate kulturpessimistische Tiraden: Nein, früher war keineswegs alles besser! Für die Gegenwelt stehen nicht zuletzt die detaillierten Ankündigungen wichtiger Ur- und Erstaufführungen.
Als nmz-Autor seit 1968 entwickelt man leicht eine gewisse Anhänglichkeit, die mögliche Kritikpunkte verschwimmen lässt. Desiderate wären: ein weniger eurozentrischer Blick, der mehr Nord- wie Südamerika im Fokus hätte, auch Afrika und Asien. Außereuropäische Kulturen, alternative U-Musik-Entwicklungen kommen kaum vor. Zusätzlich könnte die interdisziplinäre Perspektive intensiver sein; auf die immer weiter sich entfaltenden Formen des nicht nur musikalischen Theaters, in Tanz und Performance, nicht zuletzt Film, und Video. Immerhin wurde ein so exemplarisches Werk wie Lars von Triers Musical-Utopie-Tragödie „Dancer in the dark“ mit Björk behandelt.
Manchmal ist es gut, an die fabelhafte Definition des Wiener Komponisten und Pianisten Otto M. Zykan zu denken: „Musik ist alles, was nicht nur Gymnastik ist.“