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„Music for Hotel-Bars“ – Gebrauchsmusik im Westin Hotel Berlin im Rahmen einer von Bastian Zimmermann kuratierten Reihe. Foto: Martin Hufner
„Music for Hotel-Bars“ – Gebrauchsmusik im Westin Hotel Berlin im Rahmen einer von Bastian Zimmermann kuratierten Reihe. Foto: Martin Hufner
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Stets zu Diensten oder zeitgemäße Alltagskultur?

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100 Jahre Gebrauchsmusik: Ein vergessenes Jubiläum und eine neue Podcastreihe · Von Bernhard König
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„Welche Musik braucht unsere Gegenwart?“ Dieser Frage geht der Verein Trimum in einem neuen Podcast in Partnerschaft mit der nmz nach. Gemeinsam mit Expert*innen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten und Gesellschaftsbereichen suchen die Initiatoren nach „Musik, die es bisher noch nicht gibt“. Einer von ihnen ist Bernhard König, der ein Jubiläum zum Anlass für einige grundsätzliche Gedanken zum Thema nimmt.

Wer braucht heutzutage eigentlich noch Musik? Kennen Sie das? Diese leisen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns? Gerade jetzt, wo die alten Hamsterräder des Kulturbetriebs allmählich wieder anlaufen und die geboosterte Stammkundschaft dennoch nur zögernd in den Konzertsaal oder in die Chorprobe zurückkehrt? Da fragt man sich dann manchmal schon: Wozu das alles? Wer braucht noch Menschen, die von der Musik und für die Musik leben, die sie unterrichten, über sie schreiben oder sich gar eine neue Musik ausdenken?

Man kann diese Frage aber auch anders stellen und sie mit einer leicht verschobenen Betonung in eine andere Richtung zielen lassen: „Wer braucht eigentlich noch Musik?“ Wer braucht sie sonst noch, außer denen, die davon leben und regelmäßig Konzerte besuchen? Gibt es außerhalb der Kulturblase Menschen, die für das, was sie umtreibt oder bewegt, eine andere Musik gebrauchen könnten? Eine Musik, die es bisher noch nicht gibt, von der aber zu wünschen wäre, dass es sie gäbe?

Genau diese Frage stellt eine neue Podcastreihe des interkulturellen Musikprojektes Trimum in Medienpartnerschaft mit der nmz. Die Befragten sind größtenteils keine Profimusikerinnen und -musiker. Stattdessen kommen sie aus ganz unterschiedlichen Wissens- und Gesellschaftsbereichen: Klimaforschung und Städteplanung, Inklusion und interkulturelle Pädagogik, Soziologie und Theologie. Nachdem sie Einblicke in ihr eigenes Fachgebiet gegeben haben, werden die Gesprächspartner*innen zu einem interdisziplinären Gedankenspiel eingeladen. Ausgehend von ihrer fachlichen Expertise wird gemeinsam versucht, sich an eine neue musikalische Idee oder einen neuen musikalischen Bedarf heranzutasten. Welche Musik werden unsere Großstädte brauchen, wenn sie eines Tages endlich zu hundert Prozent autofrei und klimafreundlich sein werden? Wie kann unser Musikleben nicht nur auf architektonischer, sondern auch auf musikalisch-ästhetischer Ebene barrierefrei werden? Wie können sich junge Musliminnen und Muslime in der deutschen Musiktradition beheimaten und gleichzeitig ihre religiösen Überlieferungen ernst nehmen? Was ist „musikalische Öko-Routine“? Und was hat John Cage mit atomaren Endlagern zu tun?

Viele dieser Fragen sind nicht planbar. Sie entstehen erst im Verlauf der Gespräche. Manche von ihnen führen in eine gedankliche Sackgasse, andere lassen sich ernsthaft weiterspinnen und eröffnen neue Perspektiven. Und weil es in dieser akustischen Skizzensammlung um eine Musik geht, die aus Sicht des jeweiligen Wissensgebietes gebraucht wird (oder zumindest eines Tages gebraucht werden könnte), ist es ein schöner Zufall, dass ihr Start mit einem vergessenen Jubiläum zusammenfällt: Mit dem hundertsten Geburtstag der Gebrauchsmusik.

Ein zwiespältiges Jubiläum

Runde Geburtstage und Todestage – der Klassikbetrieb liebt sie. Leipzig hat soeben das „Festjahr für Felix“ ausgerufen. In Mitteldeutschland lockt „Schütz22“ ganzjährig mit Barockkonzerten und Klanginstallationen. In Schleswig-Holstein wird Johannes Brahms gefeiert, in Brüssel César Franck. Und in Großbritannien geben die großen BBC-Rundfunkensembles sich selbst ein opulentes Geburtstagsständchen.[1]

Wenn ein Jubiläum komplett ungefeiert bleibt, muss es besondere Gründe dafür geben. 1922 tauchte das Wort „Gebrauchsmusik“ erstmals in gedruckter Form auf: ein harmloser Fachbegriff, erfunden von dem Musikwissenschaftler Paul Nettl und geprägt allein zu dem Zweck, eine Unterscheidung benennen zu können, die es in der Praxis zwar schon seit längerem gab, für die aber ein geeigneter Terminus fehlte. „Gebrauchsmusik“ – das war Musik, die erklang, um einen außermusikalischen Zweck zu erfüllen. Also beispielsweise um einen Film zu begleiten, Soldaten in Gleichschritt zu versetzen oder die Menschen zum Tanzen zu animieren.

Ihr Gegenstück war die „absolute Musik“, die als reine „Vortragsmusik“ ohne einen außermusikalischen „Nebenzweck“ intendiert war.[2] Weil aber genau dieser Gegensatz einen Nerv der Zeit traf, avancierte die Gebrauchsmusik schnell zum zentralen Schlagwort einer hitzigen Debatte. Soll Musik sich einmischen? Soll sie die Konzertsäle verlassen und unmittelbar auf den Alltag, das Leben und die Politik Bezug nehmen? Oder ist sie gerade dann besonders wertvoll, wenn sie genau dies nicht tut, sondern sich als autonome Kunst versteht und ihrer eigenen, inneren Logik folgt?

Für die damals noch junge „Neue Musik“ wurde die Haltung zur Gebrauchsmusik zur zentralen Glaubensfrage. Allenthalben war von „Fortschritt“ die Rede und so stand die drängende Frage im Raum, was dieses neue Fortschritts-Credo für die Musik bedeuten könne. Gerade die jüngeren, experimentierfreudigen Komponisten sahen ihre Zukunft eher im Kino oder in der Pädagogik als im Konzertsaal. Paul Hindemith erklärte das „Konzert in seiner heutigen Form“ zu einer „Einrichtung, die bekämpft werden muß“[3] und verbündete sich mit der Jugendmusikbewegung. Hanns Eisler warf seinem konzert-affinen Lehrer Arnold Schönberg politisches Desinteresse und reaktionäres „Spießbürgertum“ vor. Dieser keilte wütend zurück. Gebrauchsmusik? Ein „fürchterliches Wort“! Musik für Laien? Die „Arbeit von Tagewerkern“![4]

Es verwundert nicht, dass die damalige Gebrauchsmusik-Euphorie heute weitgehend vergessen ist. Die beiden folgenden Jahrzehnte machten die Gebrauchsmusik zur großen ästhetischen und moralischen Verliererin dieser Debatte. Einige ihrer Verfechter fanden Exil in Hollywood, wo sie ihre Träume von einer kühnen und modernen Filmmusik alsbald begraben mussten. Für diejenigen, die blieben, bedeutete Gebrauchsmusik fortan, ihr Handwerk in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes zu stellen. Dessen Hunger nach systemkonformen Klängen aus arischer Feder war groß und die Branche lieferte bereitwillig: Fanfaren und Filmmusik, Heile-Welt-Schlager und Soldatenlieder, kriegsverherrlichende Kantaten für den Rundfunk und Fahnenlieder für die Hitlerjugend.

Industrielle Massenware auf der einen Seite, Gleichschaltung und propagandistische Vereinnahmung auf der anderen: Für die deutschen Komponistinnen und Komponisten der Nachkriegsjahrzehnte war das eine zutiefst prägende kollektive Erfahrung. Als sich im westlichen Teil Deutschlands eine neue zeitgenössische Musiklandschaft zu formieren begann, galt ihr die entschiedene Absage an jede Form von Gebrauchsmusik als eine moralische Notwendigkeit. Jegliche illustrative oder pädagogische Funktionalisierung von Musik war verpönt und galt als entmündigend oder manipulativ. Noch Jahrzehnte später hatten die Verfechter der „Neuen Musik“ für jene Kolleginnen und Kollegen, die ihr Handwerk in den Dienst der Filmindustrie, der gottesdienstlichen Liturgie oder der schulischen Erziehung stellten, nur Verachtung übrig. Emotionalisierende Filmmusik wurde mit „dem Innenpolster in den Jacketts schmächtiger Männer“[5] verglichen, das Bemühen der Schulmusiker um eine altersgemäße Musik für Vor- und Grundschulkinder als „Blockflötenunwesen“ und „Neo-Tralalismus“[6] verspottet.

Zeit für ein neue Debatte

Dies alles ist lange her. Der miserable Ruf ist ihr zwar geblieben, doch ein Aufregerthema für große Debatten ist die Gebrauchsmusik schon lange nicht mehr. Man hat sich daran gewöhnt, dass es solche und solche Musik gibt und dass die Zuständigkeiten klar verteilt sind. Wer partout mit Musik wirken möchte, soll halt Werbejingles oder therapeutisches Obertonsingen machen. Wer hingegen Musik um ihrer selbst machen will, findet in unserem reichen und kulturell vielfältigen Land genügend subventionierte Institutionen und geschützte Räume, die sich dem Gebot der künstlerischen Autonomie verpflichtet wissen. „Gebrauchsmusik“ und „Kunst“ sind sauber voneinander getrennt und kommen sich institutionell, ökonomisch oder fachlich nicht ins Gehege. Und das ist einerseits auch gut so. Es ist wichtig, dass es Orte gibt, an denen Musik einfach nur Musik sein darf, ohne einen zusätzlichen Nutzwert nachweisen zu müssen. Niemand trauert den Zeiten hinterher, in denen Berufsmusikertum zwangsläufig bedeutete, entweder zum Tanz aufzuspielen oder den politischen und religiösen Herrschern der jeweiligen Zeit zu Diensten zu sein.Doch auf der anderen Seite birgt der große Erfolg dieser institutionalisierten Schutzräume und ihrer sauberen Trennung vom schmutzigen Alltag auch die Gefahr einer beiderseitigen Verarmung. Denn es ist ja nicht so, als gäbe es in Sachen Gebrauchsmusik nichts mehr zu debattieren. Die manipulative Macht der Töne wird heute subtiler und punktgenauer eingesetzt denn je. Meist geht es darum, Menschen zu unsinnigen Konsumentscheidungen zu bewegen. Längst sind dabei ausgeklügelte Algorithmen am Werk. So verspricht der Einkaufsradio-Dienstleister Storemoods „messbar mehr Umsatz“ und eine erhöhte „Kundenloyalität“[7] durch optimierte Beschallungstechnik und ein KI-basiertes Audio-Marketing, das den Musikgeschmack der Kundschaft kennt und auf Wetterschwankungen reagiert. Und wenn Discounter wie Aldi oder Lidl in ihren Filialen auf Musik verzichten, dann tun sie dies selbstverständlich nicht aus Kunstsinn oder Menschenfreundlichkeit, sondern weil ihr Geschäftsmodell gerade nicht auf langen Verweildauern beruht, sondern auf dem möglichst schnellen Durchsatz möglichst vieler Kund*innen.[8]

Auch wenn dies alles nicht neu ist, sollte man nicht müde werden, nachrückende Generationen immer wieder darauf hinzuweisen und zu einem kritischen und subversiven Umgang zu ermutigen. Einen hundert Jahre alten Fehler sollte man dabei allerdings nicht wiederholen: Das Kind mit dem Bad auszuschütten und zusammen mit diesen Auswüchsen gleich jede Art von Gebrauchsmusik pauschal zu verurteilen und abzuwerten.

Nicht jede zweckdienliche Musik ist manipulativ und verwerflich. Und nicht jede Sache, die eine musikalische Unterstützung braucht, muss schlecht sein. Wenn uns die Gespräche unserer Podcastreihe eines gelehrt haben, dann dies: Unsere Gegenwart ist voll von spannenden und herausfordernden Aufgaben, die auf zweckmäßige musikalische Antworten warten. Vieles ist bereits auf dem Weg. Musikschulen bieten inklusive Bands und Baglamaunterricht an. Konzert- und Opernhäuser haben ihre Türen weit geöffnet und vermitteln, was das Zeug hält. Doch es braucht viel mehr als das: eine musikalische Alltags- und Gebrauchskultur, die den veränderten Werten und Aufgaben einer diversitätsbejahenden und krisengeschüttelten Gesellschaft gerecht wird. Dazu zählen zum Beispiel anspruchsvolle Lieder in leichter Sprache, die Erwachsenen das Deutschlernen erleichtern. Neue Konzepte für eine intergenerationelle Laienchorkultur, die altersübergreifende Begegnung befördert, anstatt sie durch Segregation zu verhindern. Orte der interreligiösen Begegnung, an denen singend ein respektvolles Mit- und Nebeneinander eingeübt werden kann. Aber auch Andachtsorte und partizipative Rituale für Menschen ohne religiöse Zugehörigkeit, die nach neuen Formen suchen, um sich für die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit zu ermutigen und miteinander Kraft für echte Veränderungen zu schöpfen.

Dies alles wird von unserer Gesellschaft zwar gebraucht, aber nur sehr eingeschränkt als subventions- und diskurswürdig erachtet. Der Grund dafür: Gerade weil es einer klar definierten Sache dient, gilt es nicht als „Kunst“. Doch Musik, die akut gebraucht wird, ist deswegen nicht per se weniger wert, als Klanginstallationen oder Konzerte vor einem sitzenden und klatschenden Publikum. Sie hat alles Können, alle Experimentierfreude, allen musikalischen Einfallsreichtum und alle Förderung verdient. Und vielleicht wäre genau dies ja das schönste Geburtstagsgeschenk für diese seltsame und zwiespältig schillernde Jubilarin namens „Gebrauchsmusik“: Wieder mehr Lust darauf zu machen, sich mit Musik ins Weltgeschehen einzumischen.

Die ersten Folgen des Trimum-Podcasts:

  • Europa 2050 – Welche Musik brauchen wir, Christoph Bals?
  • Musik ohne Behinderung – Welche Musik brauchen wir, Karina Folkmer?
  • Wanderer zwischen zwei Welten – Ahmet Gül zu Gast bei Reza
  • Vielstimmige Heimat – Welche Musik brauchen wir, Anima Awudu-Denteh?

https://trimum.de/start/podcast


Anmerkungen

[1] Die zugehörigen Jubiläen, für Rätsel­freund*innen in numerischer Reihenfolge: 100, 125, 175, 200, 350.

[2] Paul Nettl: „Beitrag zur Geschichte der Tanzmusik im 17. Jahrhundert“. Zeitschrift für Musikwissenschaft, Februar 1922, S. 258

[3] Paul Hindemith: Aufsätze. Vorträge. Reden, Zürich 1994, S. 8.

[4] Zit. nach Rudolf Stephan: „Adorno und Hindemith. Zum Verständnis einer schwierigen Beziehung“, in: Susanne Schaal / Luitgard Schader: Über Hindemith. Aufsätze zu Werk, Ästhetik und Interpretation, Mainz 1996, S. 258

[5] Zitiert nach Hans-Christian Schmidt: „Entwurf einer Mediendidaktik – exemplarisch dargestellt an den musikalischen Inhalten des Kino- und Fensehfilms“, in: Helmut Rösing (Hrsg.): Musik und Massenmedien, München 1978, S. 54.

[6] Heinz-Klaus Metzger: Musik wozu. Literatur zu Noten, Frankfurt a.M. 1980, S. 44 und 47.

[8] Jennifer Buchholz: „Darum läuft im Discounter keine Musik“. t-online.de, 17.7.2021.

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