Banner Full-Size

Von Macht und Ohnmacht des Rezensenten

Untertitel
taktlos-Sendung vom 12. Februar 2001 · Eine Diskussion zum Thema „Musikkritik in der Kritik“
Publikationsdatum
Body

Heute findet keine Zeitung größere Verbreitung – durch Musik-Kritiker, könnte man einen alten Kreisler-Text variieren. Musikkritik fristet ihr Dasein eher in den unteren Spalten der Feuilletons, es sei denn, sie beschäftigt sich mit Event-Kultur. Das Musikmagazin „taktlos“ versuchte am 12. Januar um 20.05 Uhr in Bayern2Radio eine Kritik der Musik-Kritik. Theo Geißlers Gäste waren Miriam Stumpfe, Freie Journalistin („SZ“, Bayerischer Rundfunk), Ursula Adamski-Störmer (Abteilungsleitung Musik Studio Franken, BR), Gerhard R. Koch, Musikkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und Dieter Stoll, Musikkritiker der Abendzeitung Nürnberg. Die nmz druckt die Diskussion in Teilen nach.

Heute findet keine Zeitung größere Verbreitung – durch Musik-Kritiker, könnte man einen alten Kreisler-Text variieren. Musikkritik fristet ihr Dasein eher in den unteren Spalten der Feuilletons, es sei denn, sie beschäftigt sich mit Event-Kultur. Das Musikmagazin „taktlos“ versuchte am 12. Januar um 20.05 Uhr in Bayern2Radio eine Kritik der Musik-Kritik. Theo Geißlers Gäste waren Miriam Stumpfe, Freie Journalistin („SZ“, Bayerischer Rundfunk), Ursula Adamski-Störmer (Abteilungsleitung Musik Studio Franken, BR), Gerhard R. Koch, Musikkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und Dieter Stoll, Musikkritiker der Abendzeitung Nürnberg. Die nmz druckt die Diskussion in Teilen nach.Theo Geißler: Hört man Musik, dann gewinnt man den Eindruck, dass die Musikkritik scheinbar unbegrenzte Macht hat, Karrieren zu befördern oder Karrieren zu vernichten. Herr Stoll, haben Sie schon Karrieren befördert oder vernichtet?

Dieter Stoll: Das mit der Macht der Kritik, halte ich natürlich für maßlos übertrieben. Ich glaube aber schon daran, dass man bestimmte Dinge befördern oder gelegentlich auch verhindern kann.

: Also auch einzelne Künstler oder einzelne Macher befördern...?
: Macher mehr als Künstler. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ein Kritiker seine Energien darauf verwenden sollte, einen Opernsänger, den er unerträglich findet, um sein Engagement zu bringen.
: Aber einen GMD kann man schon mal kippen...?
: Je höher die Damen und Herren in der Hierarchie stehen, desto heftiger soll man sie angreifen. Sie stehen ja schließlich für bestimmte Dinge in der Verantwortung. Genauso sollte man unbedingt Initiativen, die sich auf einer mittleren Ebene entwickeln, möglichst früh aufnehmen und dann für sich als Kritiker entscheiden, ob man es für wichtig genug hält, dies zu befördern oder ob man’s lieber vergisst.
: Stichwort regionale Kultur- oder Musikkritik. Frau Adamski-Störmer, sie stehen gewissermaßen auf der konstruktiven Seite und produzieren mit dem Bayerischen Rundfunk in dieser Region. Geraten Sie da manchmal in Konflikt mit Ihrem Kollegen, der Sie dann verreißt?

Ursula Adamski-Störmer: Mir ist das noch nicht zu Ohren gekommen, dass er mich verissen hätte! Ich glaube, dass der Kritiker gerade in der Region sicherlich eine andere Funktion und eine sehr große Verantwortung hat: Musikleben, das möglicherweise irgendwann mal ins Überregionale ausströmen kann, zu befördern, zu lenken, zu korrigieren und eben auch beim Wachsen zu unterstützen. Das Studio Franken in Nürnberg trägt dem Rechnung, dass eben eine große fränkische Region mit drei riesigen Bezirken – Ober-, Unter,- Mittelfranken – auch ein reiches Kulturleben hat.

: Miriam Stumpfe, Sie berichten sowohl über regionale Events, aber auch über überregionale. Macht das für Sie einen Unterschied in Ihrer Haltung zu einer Berichterstattung?

Miriam Stumpfe: Lokale Ereignisse sind natürlich ja auch Konzerte hochkarätiger Künstler in München! Aber da muss man tatsächlich, wie Herr Stoll gesagt hat, unterscheiden: Je höher jemand steht, desto schärfer kann man kritisieren. Es macht also einen Unterschied, wie das Standing von jemandem ist. Man muss dabei abwägen, welche Verantwortung man hat.

: Herr Koch, Sie sind dafür bekannt, dass einzelne Künstler in Ihrer Berichterstattung, die oft weite reflexive Bögen schlägt, kaum noch vorkommen. Ist das sozusagen der Thron des „Großkritikers“, der es gar nicht mehr nötig hat oder der es nicht für opportun hält, sich mit dem einzelnen Interpreten zu beschäftigen und der sich den großen, hohen Blick vorbehält?

Gerhard R. Koch: Es ist eher eine gewisse Reserve gegenüber der Übermacht des Interpretatorischen, gegenüber der Fetischisierung von Interpretation, gegenüber Kult mit Interpreten. Das kann vielleicht bei mir auch eine Art „deformation professionelle“ sein, weil ich das schon so lange mache. Aber ich finde eben diese – sagen wir mal – musikalische Aufführungsdetailkritik immer weniger interessant.
Ich glaube nicht, dass die Karriere eines Künstlers durch bestimmte Kritiker oder Kritiken gewissermaßen „gemacht“, erzeugt und entscheidend gefördert worden ist oder dass der Kritiker die Macht hat, bestimmte Künstler gewissermaßen zu vernichten. Es gibt da ja zwei Sachen: Der Kritiker kann von den „Betroffenen“ geschätzt sein, und er kann auch gefürchtet sein. Und dann gibt es Kritiker, die sind gefürchteter, aber sie werden nicht geschätzt! Mir ist eigentlich das Gegenteil lieber. Mich muss eigentlich kein Musiker, Komponist oder Regisseur fürchten. Mir ist es dann schon lieber, wenn er sagt, dass er zwar mit dem Urteil nicht sehr glücklich ist, aber es akzeptiert, weil der Kritiker sich Mühe gibt zu verstehen und zu vermitteln. Ich habe da eine andere Auffassung von Kritik und fühle mich in dem Sinne auch nicht als Groß- oder Starkritiker.

: Noch einmal zur Aufführungskritik. Haben es die Interpreten, die maßgeblich zum Gelingen einer Aufführung beigetragen haben, nicht auch verdient, in einer Kritik genannt zu werden?
: Selbstverständlich wird ein Sänger in einer entscheidenden Partie oder der Dirigent natürlich gebührend beurteilt, besprochen und unter Umständen auch kritisiert. Was mich nur stört, ist eben diese Art von Erbsenzählerei und dieses – gerade in der Schallplattenkritik – sehr verbreitete Fingieren, als gäbe es unglaubliche Unterschiede. Ob man die Beethoven’sche Fünfte nun ein bisschen mehr so oder ein bisschen mehr so macht, so furchtbar wichtig ist das nicht. Ich glaube, das ist bei manchen Kritikern vielleicht tatsächlich ein bisschen so eine Art Selbstberauschung an einer Macht, die ja eigentlich völlig fiktiv ist. Denn die Macht der Musikkritik oder der Umfang der Musikkrittik tritt ja deutlich zurück. Das sieht man ja bei einigen Tages- und Wochenzeitungen, dass rein quantitativ immer weniger Musikkritik stattfindet. Insofern tritt dieser ganz bestimmte Typ reiner Interpretationsrezension doch deutlich zurück.
: Frau Stumpfe, Sie genießen ja des Öfteren die Gnade der 90-Minuten-Radiosendung; da kann man wirklich in die Tiefe und ins Beispiel gehen. Wie ist das für Sie, wenn Sie dann wieder einen Zweieinhalb-Minuten-Schnellbericht für „Musik aktuell“ schreiben sollen? Ist da eine Diskrepanz da?
: Man muss natürlich schon umschalten. Aber damit habe ich eigentlich keine Schwierigkeiten. Ich denke auch nicht, dass ich der Sache dann nicht gerecht werde. Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, über den ich schreibe, aber prinzipiell geht es ja erst einmal darum, Information und Urteil für die Hörer oder auch Zeitungleser zu liefern. Und wenn es so ist, dass 60-Zeilen-Texte gelesen werden, aber 120-, 150-Zeilen schon nicht mehr, weil’s einfach die Leute schon abschreckt, dann sag ich: Gut, lieber schreibe ich 60 Zeilen und bin vielleicht auch ein bisschen einseitig pointiert, als dass ich doppelt so viel schreibe und es liest keiner!
: Herr Koch, einerseits hat Theodor W. Adorno einst davon abgeraten, studierte Musikwissenschaftler als Musikkritiker einzusetzen; er befürchtete da eine approbierte Beckmesserei. Auf der anderen Seite ist ja doch ein hohes Wissen, auch ein hohes Maß an Erfahrung nötig, um verantwortungsbewusst Urteile fällen zu können. Wie gehen Sie es denn an, wenn Sie Ihre glücklicherweise noch lang-sein-dürfenden Strecken schreiben?
: Ich habe immer das Gefühl, man muss da so eine Art Spagat vollziehen, der einem im Grunde gar nicht gelingen kann. Nämlich als Kritiker sollte man schon gut informiert sein, möglichst viel von der Sache verstehen, Einblicke in die Praxis haben, die Partituren gut kennen und einfach wissen, worum’s geht. Aber das Problem ist andererseits, dass ich auch versuchen muss, gewissermaßen eine – wie auch immer fiktive – Tabula-rasa-Situation herzustellen; dass ich versuchen muss, mir bei aller Erfahrung und dem Wissen, das man sich zwangsläufig erworben hat, doch noch einen Moment von spontaner Rezension zu bewahren – sich vorzustellen: wie wäre es eigentlich, wenn man die Beethoven’sche Fünfte nun zum ersten Mal hören würde. Ich finde das eigentlich immer wieder sehr heilsam, sich das vorzumachen und sich auch dabei zu testen.
: Sie haben da gerade ein verdächtiges Wort gesagt: „vorzumachen“. Kann man das noch als Profi, dass man sozusagen reinen Herzens an Beethovens Fünfte rangeht oder macht man sich da was vor?
: Ich denke, beides ist der Fall. Man macht sich da eine Unberührtheit vor, die es natürlich nicht gibt. Aber man kann trotzdem versuchen, den Kopf wieder ein bisschen frei zu schaufeln. : Herrn Beethoven kann man ja auch durch schlechte Kritiken nicht mehr schaden! Es geht dann wohl doch eher darum, die Auseinandersetzung mit den Interpreten in irgendeiner Weise herzustellen; und da kann es ja eigentlich nicht schaden, wenn man möglichst viele Dinge vorher in sich aufgesammelt hat, um diesen Vergleich nicht einfach in den Nebel hi- nein machen zu müssen. : Aber ich finde, Kritik muss ja nicht immer nur Interpretationskritik sein; sie kann ja auch Kompositionskritik sein. Und es ist ja nicht sakrosankt, zumindest mal zu artikulieren, dass man in der gegenwärtigen Phase mit bestimmten Stücken von Beethoven seine Schwierigkeiten hat und das Gefühl hat, dass die auf eine seltsame Weise immer weiter wegrücken. Aber um jetzt noch einmal zu dieser Spannung, ja dieser Kluft zwischen Erfahrung und Tabula rasa ein Beispiel zu nennen: Es geht mir immer wieder so bei den Inszenierungen von Robert Wilson. Da hat man das Gefühl, diese Ästhetik schon seit über 20 Jahren zu kennen und man weiß auch, wo es sich wiederholt, wo es sich erschöpft. Man spürt im Grunde genommen diesen Impuls: Naja, hast du alles schon tausendmal gesehen, ist eigentlich nicht interessant. Aber wenn man sich dann in die Position von jemandem hineinversetzt, der die erste Robert-Wilson-Inszenierung sieht – und die Leute sind zum Teil einfach hin und weg von diesem „Zaubertheater“ –, dann stellt man fest, dass man die eigene Position ein bisschen revidieren muss. Und eben diese Vorstellung, dass man eben alles schon gesehen und gehört hat, ist vielleicht ein Moment der Allmachtsfantasie des Kritikers. : Wobei ich denke, man kann sich auch durch bewusste Auswahl, mit welcher Musik man sich konfrontiert, diese Tabula-rasa-Situation wieder schaffen. Ich schaffe mir Einsicht in Beethovens Fünfte, wenn ich viel Interpretationen vergleiche und dabei mehr und mehr differenziere. Wenn ich dagegen vielleicht eine Weile lang nur noch die neue Radiohead-CD höre und mich von einer ganz anderen Musik völlig gefangen nehmen lasse, begegne ich den anderen Sachen wieder ganz anders. Ich finde es entscheidend, sich nicht nur immer in diesem Klassik-Bereich zu bewegen, in dem wir professionell arbeiten.
: Ist nicht jede Kompositionskritik auch zu gut 50 Prozent eine Geschmackskritik? Und müssen sie sich da nicht auch im Grunde genommen gefallen lassen zu sagen, ein bisschen „liebe Göttin“ bin ich auch, Frau Adamski-Störmer?

Adamski-Störmer: Nun war Musikkritik in ihren Ursprüngen eigentlich in erster Linie Kompositionskritik, und das hat sich natürlich etwas gewandelt. Gerade bei der Kompositionskritik gibt es durchaus Parameter, an denen man entsprechend argumentieren kann – angefangen vom formalen Aufbau über den musikalischen Satzbau, die Instrumentierung, bis hin zu der Geschichte, die da mit hineinspielt, welche Vorbilder und Inspirationsmomente da sind. Ich glaube nicht, dass man sich als Kritiker davon befreien kann, den eigenen Geschmack einfließen zu lassen. Aber dieser Geschmack muss natürlich zumindest mal die Basis einer Beurteilung bestimmter musikalischer Parameter haben und es muss fairerweise deutlich sein, dass es ein persönlicher Geschmack ist.

: Wenn ich mich mit Leuten, die nicht in diesem Beruf arbeiten, darüber austausche, wie sie Zeitung und Musikkritik wahrnehmen, dann merke ich, es kommt nicht darauf an, dass das eine subjektive Meinung ist. Manchen gelingt es, das deutlich zu machen, aber generell heißt es: „Ja, die ‘SZ’ hat geschrieben“. Es hat nicht die „SZ“ geschrieben, es hat eben ein Autor geschrieben! Sie haben das BR-Magazin „Musik aktuell“ erwähnt – im Rundfunk machen wir manchmal Kritik in Gesprächsform. Ich glaube, das ist ein Weg, um zu zeigen, das ist eine Person, ein Mensch, der spontan reagiert. : Das ist natürlich ein fundamentaler Unterschied zwischen der Kritik im Hörfunk und in den Printmedien. Hier ist der subjektive Faktus, eben durch die Sprache und die Art, wie jemand sich artikuliert, sehr viel stärker gegeben, während alles, was gedruckt ist, bei welcher Zeitung auch immer, hat etwas sehr Objektivierendes oder kriegt dadurch den Anschein des Objektiven – und das ist natürlich völliger Unsinn! Natürlich ist jede Kritik und selbst wenn sie sich noch so sehr um Sachlichkeit und Neutralität bemüht, immer ein Ausdruck von Subjektivität. Schon die bloße Tatsache, dass sich jemand entscheidet, über diese Sache zu schreiben und jene Sache nicht zu schreiben, hat ja im Grunde genommen einen ganz subjektiven Tick.
: Für wen schreiben Musikkritiker denn letztlich wirklich? Ist die klassische Humboldtianische Musikkritik die blaue Blume einer kleinen radikalen Minderheit geworden?
: Man muss sich als Ziel darum bemühen, sich zum Anwalt der Musik, aber auch zum Anwalt des Kultur- und des Musiklebens zu machen. Ich denke, es gibt genügend spannende Inhalte in der Musik und im Musikleben, die man versuchen muss, entsprechend attraktiv, aber natürlich auch auf einem fachlichen Know-how, an die Leute heranzubringen.
: Herr Stoll, wenn ich weiß, ich kann 30 Zeilen á 20 Anschläge schreiben, macht es dann überhaupt Sinn, sich solche Kopfzerbrechen zu bereiten?
: Das würde keinen Sinn machen, aber so kurz sind die Kritiken ja nicht. Nein, es ist – aus meiner Sicht zumindest – so, dass man versuchen muss, dagegen anzugehen, dass Berichterstattung und Musikkritik auseinanderfallen; nämlich dass man nicht nur über den einen Teil, was die hohe Kunst ist und für ein elitäres, kleines Publikum schreibt, das als Wanderprozession von einer ars nova zur anderen läuft, und dann intern behandelt wird. Ich glaube, man muss beides tun: man muss sich auch mit der breiten Musikkultur auseinander setzen, so schwer es auch manchmal fällt.
: Es erfordert, dass man sich als Kritiker exponiert und selbst der Kritik aussetzt. Bekommen Sie da hartes Feedback, Herr Koch?
: Man wird ja manchmal gefragt, ob einem so ein Job eigentlich Spaß macht, und ich muss sagen, mir macht er nach wie vor sehr viel Spaß. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Situation – ich bin da überhaupt kein Kulturpessimist! – eigentlich immer spannender wird, weil das Spektrum der Musik, mit der man sich beschäftigen kann/darf/muss immer breiter wird. Es steht ja immer mehr historische Musik zur Verfügung – die alte Musik bis zum Mittelalter – und es kommt immer mehr neue Musik dazu. Dann kommt natürlich auch die ganze U-Musik hinzu, die außereuropäische Musik und es kommen die verschiedenen Formen von Musiktheater dazu und nicht zuletzt die ganze Kulturpolitik. Das heißt, die Musikkritik wird eigentlich wie so ein Fächer immer weiter geöffnet, und ich finde das immer inspirierender. Man ist somit immer weniger gezwungen, sich mit demselben Standardrepertoire zu beschäftigen, sondern man kann es sich aussuchen und für sich selbst immer wieder neue Felder entdecken. Das finde ich eine ganz tolle Sache, und das nimmt mich immer wieder sehr für diesen Beruf ein.

Adamski-Störmer: Diese Vielfalt zeigt natürlich auch, dass diese angebliche Macht des Kritikers in dem Sinne schon gar nicht mehr etabliert sein kann, weil es eben ein so vielfältiges und diversifiziertes musikalisches Betätigungsfeld gibt – und dass es auch so viele Publika gibt: Es interessiert sich nun nicht jeder für die ganze Breite, für die wir uns möglicherweise interessieren. Man spricht, segmentiert, wie die Musik ist, verschiedene Publika an.

: Und die Kulturpolitik ist, glaube ich, schon ein wichtiges und immer wichtiger werdendes Thema. Es gibt ja hier das aktuelle Beispiel in Franken vom Würzburger Theater. Da soll das Schauspiel erhalten bleiben und die Oper soll abgewickelt werden, weil man da mehr sparen kann. Es ist doch auch eine Aufgabe der Musikkritik oder der Kulturkritik auf diese Widersprüche in der Kulturpolitik hinzuweisen – nämlich, dass Würzburg sich damit schmückt, jedes Jahr ein gesellschaftlich hochgeschnäuztes Mozartfest zu machen und gleichzeitig die Oper abschaffen will. Das ist ja absurd!

Adamsky-Störmer: Da könnte sich oder da muss sich der Kritiker, der Musikjournalismus zum Anwalt des Musiklebens machen!

: Meine Kritik an der Musikkritik über viele Jahre hinweg war immer, dass sie die Grundsubstanz aus dem Auge verloren hat. Dass sie sich nicht darum gekümmert hat, wenn der Musikunterricht an Schulen wegbricht, wenn die Kulturbildung wegbröselt, und stattdessen lieber zu den Festivals gefahren ist. Ich glaube sogar bei der FAZ tut sich da inzwischen was, Herr Koch?
: Also, ich werde immer wieder darauf angesprochen, dass ich nur noch sehr wenig Konzertrezensionen schreibe und stattdessen sehr viel mehr kulturpolitische Kommentare, Kolumnen und Glossen. Gerade zum Würzburger Theater habe ich mich da doch sehr scharf geäußert. Und das finde ich im Grunde viel wichtiger als immer nur diesen halbwegs laufenden Betrieb zu bedienen. Ein Problem der Musikkritik sehe ich schon in der Überalterung des Konzertpublikums. Wenn man sich viel in Kulturveranstaltungen bewegt, stellt man fest, dass – zum Beispiel in Frankfurt in der Alten Oper – das Durchschnittsalter des Publikums doch mittlerweile gut über 50 ist.
In der Oper ist es jünger, im Ballett, vor allem in Frankfurt beim Forsythe-Ballett, gibt es ein sehr jungendliches Publikum, und wenn man ins Kino geht, dann denkt man, man ist auf einem anderen Planeten: da liegt das Durchschnittsalter zwischen 17 und 18! Und das gehört jetzt auch zu diesem „Fächer“ von Musik, dass man wieder neue Segmente nicht des Publikums, sondern der Bevölkerung im Zusammenhang mit ästhetischen Phänomenen sieht. Und wenn ich als Kritiker einen Wunsch äußern dürfte, dann fände ich es toll, wenn es uns gelänge, das ein bisschen zu vernetzen und zu verflüssigen – dass eben die Leute, die gern ins Kino gehen, auch gerne mal in ein Konzert kommen und umgekehrt. Ich finde, es steckt in unserem Musikbetrieb so viel abgestandenes Bürgertum, das sich als solches gar nicht schmähen will. Aber dieses rigide Beharren auf den alten Traditionswerten, das finde ich doch ziemlich kontraproduktiv.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!