„Wer aber Ohren und Nerven hat, sich auf echte Musik eines modernen Menschen einzustellen, muß Weihestunden erlebt haben von ungewöhnlich nachhaltigem Eindruck. […] Die Tonsprache […] steht jenseits (wie wir sagen möchten über) der alten strengen Tonalität, sie hat sich von den Fesseln und Formen der kadenzierten großen Linien befreit, sie ist dagegen von neuen und eigenen Gesetzen einer zwar ungewohnten aber gediegenen musikalischen Logik getragen. Eine solche neue Ausdrucksweise war aber nötig, wo es galt, ein uraltes Problem [das Zusammenwirken von Musik und Dichtung] in einer höchst persönlichen und genialen Art zu behandeln.“
Diese Sätze, die Paul Bekker im Dezember 1922 schrieb, galten dem Oratorium „Die Mutter“ von Gerhard von Keußler. Sie sind kein Einzelfall geblieben, sondern stehen beispielhaft für die Wirkung, die die Werke dieses Komponisten bei Publikum und Kritik hervorgerufen haben. In der Zwischenkriegszeit war Keußler ein angesehener Mann, dessen Oratorien – „Jesus aus Nazareth“ (1917), „Die Mutter“ (1919), „Zebaoth“ (1908/1924), „In jungen Tagen“ (1915/1928) –, Tondichtungen und Symphonien große Beachtung fanden. Wer damals vor deutschsprachigen Musikfreunden seinen Namen nannte, konnte damit rechnen, dass man wusste, von wem die Rede war. Umso mehr frappiert, dass in den 70 Jahren nach seinem Tode 1949 keines seiner Chor- und Orchesterwerke, geschweige denn eine seiner Opern irgendwo aufgeführt worden ist, dass im Handel kein einziger Tonträger mit seiner Musik existiert, dass, kurzum, Keußler in einer Weise vernachlässigt wurde, die in keinem Verhältnis zu seinem einstigen Ruhme stand und er in tiefere Vergessenheit fiel als mancher Zeitgenosse, der es an Ansehen zu Lebzeiten mit ihm nicht aufnehmen konnte.
Den verfügbaren Quellen zufolge muss dieser 1874 als Pfarrerssohn im heutigen Lettland zur Welt gekommene und in Sankt Petersburg aufgewachsene Doktor der Philosophie, ausgebildete Botaniker und Freimaurer einer der überragenden Chorleiter der Musikgeschichte gewesen sein. In künstlerischen Fragen kannte er keine Kompromisse. Lieber gab er die Leitung eines Gesangvereines auf, als hinzunehmen, dass „nur“ 70 Prozent der Sänger seinem Vorschlag zustimmten, zwei Jahre lang keine Konzerte zu geben und sich intensivster Probenarbeit zu widmen. So leidenschaftlich Keußler im Dienst an der Kunst aufging, so rasch konnte es ihn entmutigen, wenn er die Bedingungen zur Umsetzung seiner künstlerischen Ziele nicht mehr gegeben fand. Wie er bereits das Kompositionsstudium in Leipzig aus Unzufriedenheit mit dem Lehrbetrieb ohne Abschluss beendet hatte, so schied er auch enttäuscht aus den Dirigentenämtern, die er später in Prag (1906–1917), Hamburg (1918–1922) und Melbourne (1934/35) bekleidete. An Kontakten zu einflussreichen Musikern fehlte es ihm nicht: Er half Gustav Mahler, dessen Siebte Symphonie in Prag zur Uraufführung zu bringen, und wurde 1918 von Karl Straube gebeten, an dessen statt Thomaskantor in Leipzig zu werden. Die NS-Zeit überstand Keußler, der noch 1938 in Prag ein Konzert mit jüdischen Chorsängern gab und eine 1926 zur Förderung seines Schaffens gegründete Gesellschaft lieber auflöste, als der Aufforderung nachzukommen Juden auszuschließen, vor allem durch die alte Freundschaft mit Peter Raabe. Zum Präsidenten der Reichsmusikkammer aufgestiegen, nutzte dieser 1936 seinen Einfluss, dem in finanzielle Bedrängnis geratenen Keußler eine Kompositionsprofessur in Berlin zu verschaffen.
Solchen Verbindungen zum Trotz war Keußlers Wirken in allen Phasen seines Lebens etwas Abseitiges eigen. Er suchte weder als Mensch, noch als Künstler Anschluss an „Kreise“ oder „Strömungen“. Seine 1927 erschienene Schrift „Die Berufsehre des Musikers“, in der er sich für die Gründung einer vom Staat unabhängigen Musikerorganisation mit eigener Gerichtsbarkeit ausspricht, ist geradezu als Aufruf zu werten, das Kunstschaffen dem Einfluss der Politik wie der Tagesmode zu entziehen. Verlegern gegenüber zunehmend misstrauisch geworden, nachdem er zweimal Opfer eines Tantiemenbetrugs geworden war, betrieb er die Veröffentlichung seiner Kompositionen mit stetig abnehmender Intensität. So war, als Keußler vier Jahre nach Kriegsende in Niederwartha bei Dresden starb, der Großteil seines Schaffens ungedruckt.
Zwar nahm sich das Weimarer Goethe-Schiller-Archiv des vollständigen Nachlasses an, doch bestand in der DDR kein Interesse an der Musik des religiösen Adligen. Auch im Westen wurde er rasch vergessen, zumal das gedruckte Aufführungsmaterial des „Jesus“ und der „Mutter“ im Krieg zerstört worden war.
Zwei Verlagen gebührt nun das Verdienst, mit neuen Ausgaben wieder auf Keußlers Musik aufmerksam gemacht zu haben: dem Laurentius-Musikverlag, Frankfurt am Main, und der Musikproduktion Höflich, München. Während bei Höflich das Oratorium „Zebaoth“ als Nachdruck der Erstausgabe vorliegt (eine Publikation der Lieder in der Reihe „Beyond the Waves“ ist geplant), wurde bei Laurentius eine Edition ausgewählter Orchesterwerke begonnen, die, herausgegeben von Denis Lomtev, hiermit erstmals publiziert werden.
Wie klingt diese Musik? Ferdinand Pfohl, unter den namhaften Kritikern seiner Zeit wohl Keußlers größter Bewunderer, nannte ihn einen „wahrhaft Freien“. In der Tat sperrt sich Keußler gegen eine vorschnelle historisch-stilistische Klassifizierung. Gewiss hört man seiner Musik sofort an, dass sie jenem Stilkreis zugehört, den man gewöhnlich „Spätromantik“ nennt, doch scheitert jeder Versuch, sie einer bestimmten Strömung zuzuordnen. Wie Keußler, abgesehen von der anonymen Poesie der Bibel und des Volkslieds, stets nur eigene Dichtungen vertont hat, wurzelt auch sein Kompositionsstil in keiner fremden Gedankenwelt, sondern gehört, von seinen frühesten Werken an, ganz ihm selbst. Diese Musik zählt zum Introvertiertesten ihrer Epoche. Keußler stützt seine Harmonik zwar auf die herkömmlichen Funktionen, doch mildert er in auffälliger Weise den Vorwärtsdrang der Dominante ab, etwa indem er sie durch große None und Undezime subdominantisch einfärbt. Auch liebt er die schwebende Wirkung der Ganztonleiter. Die Musik scheint fast nie vom Akkord her gedacht. Harmonien ergeben sich aus dem Zusammenklang der Stimmen, die nahezu durchweg ein vorhalts- und durchgangsreiches Eigenleben führen.
In der Ausformung der Perioden begegnen selten regelmäßige Strukturen, wie auch die Form im Großen wenig Ähnlichkeit zu überkommenen Modellen besitzt. So fehlen exakte Reprisen, auch gibt es keine klare Trennung zwischen exponierenden und durchführenden Abschnitten. Die meist kurzen Motive werden fortwährend verwandelt, oft neue Verlaufsabschnitte als Varianten vorangegangener geschaffen, ohne dass sich von Variationen im klassischen Sinne sprechen ließe. Trotz polyphonem Tonsatz finden sich keine regulären Fugen. Die Auseinandersetzung mit der traditionellen Sonate ist für Keußler, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, offenbar nie ein Problem gewesen, da er von Anfang an andere Wege einschlug. Diese Musik drängt nicht voran, sie strebt in einer ganz persönlichen Konsequenz und Leidenschaftlichkeit fortwährend nach innen. Die Form ist, um ein Wort Busonis zu benutzen, ganz in Empfindung aufgelöst.
Bislang sind vier Orchesterwerke erschienen: die kurze Tondichtung „Juninacht am Meer“, das „Praeludium solemne“ für Orchester und Orgel (eine Fantasie über Victimae paschali laudes), die „Morgenländische Phantasie“ (kein orientalistisches Werk, sondern eine religiöse Programmmusik), und die Symphonie d-Moll (ein einsätziges, thematisch sehr dicht gearbeitetes Stück in vier Teilen, formal gegliedert durch wie von außen kommende Orgeleinwürfe). Die ebenfalls bei Laurentius herausgekommene Kantate „Die Burg“ (eine „vaterländische Tondichtung“ zur Feier der Wartburg, ohne hurrapatriotische Züge), ermöglicht es, wie auch das alttestamentarische „Zebaoth“-Oratorium, sich einen Eindruck von dem Wort-Ton-Verhältnis der Keußlerschen Vokalmusik zu verschaffen, das einst Paul Bekker mit den Worten rühmte: „Text und Musik entsprechen sich in einer so vollkommenen Art, wie dies bisher nur in ganz wenigen Gipfelwerken erreicht worden ist.“