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Scelsi revisited
Scelsi revisited
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Ächzen und Flimmern

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Musik von und zu Giacinto Scelsi, Timothy McCormack, Huihui Cheng, Michel Roth, Uli Fussenegger, Tristan Murail, Georg Friedrich Haas, Michael Pelzel, Nicola Sani, Fabien Lévy, Ragnhild Berstad.

Scelsi revisited: Wie kann man eine Musik sinnvoll „überarbeiten“, deren Entstehungsprozess weitestgehend im Nebulösen stattfand? Man kann es vor allem, wenn man sich auf den Ursprungsakt des Ganzen beziehen kann, was im Falle von Giacinto Scelsi heißt: die Bandaufzeichnungen seiner Ondioline-Improvisationen, Grundlage der mehrstimmigen Stücke, die von Dritten nachträglich in Partiturform gebracht wurden. „Überarbeiten“ ist an dieser Stelle allerdings ein vielleicht unglücklicher Begriff, geht es doch in den Kompositionsaufträgen, die das Klangforum Wien an befreundete Komponist*innen verteilte, um ein Anknüpfen und individuelles Weiterspinnen der akustischen Dokumente von Scelsis geheimnisumwitterten Produktionsvorgängen. Naheliegend, dass die meisten auf ein in sich bewegtes Kontinuum aus sind. Michael Pelzel präsentiert sich in „Sculture di suono“ als Klangbildhauer, der aus der „Modelliermasse“ Ensemble vielfarbige Schwebungen und dramatische An- und Abschwellvorgänge herausholt. Tristan Murail überrascht im bemerkenswert kontrastiven und gestaltreichen „Un sogno“ für Ensemble und elektronische Klanganalyse mit melodiösen Gesten und harmonischer Verklärung. Uli Fussenegger, der Initiator des Ganzen, hat in „San Teodoro 8“ eine Hommage konzipiert, die Scelsis Originalbänder in einer Art Remix verarbeitet, der die trashige Aura des Originalklanges wunderbar konserviert. Weitere Stücke von Michel Roth, Georg Friedrich Haas, Nicola Sani, Fabien Lévy und Ragnhild Berstad. (Kairos, 2 CDs)

In der „Edition zeitgenössische Musik“ wird Huihui Cheng vorgestellt. Die 1985 geborene Komponistin kann geradezu prototypisch für die Ästhetik ihrer Generation gelten: Instrumentales, Vokales, Elektronisches, Visuelles und Szenisches, Komponiertes, Zufälliges und Interaktives treffen sich in hybriden Klangräumen, die von Ernst und Spiel gleichermaßen durchdrungen sind. „Me Du Ça“ (2016) ist eine irrlichternde Vokalperformance, wo die Sopranistin ein Medusenhaupt aus Schläuchen trägt, das auch als Klangquelle dient. Der elektronisch flackernde Klangraum erscheint wie ein Trip ins alptraumhaft Unterbewusste. In „Narcissus & Echo“ (2018) sind es gleich zwei Sängerinnen, die zusammen mit Instrumentalisten und Elektronik ihre Vokalisen und Wortfragmente zu einem surrealen Klangraum flüchtiger Gestalten mischen, im Normalfall visuell belebt durch computergrafische Zeichnungen. Forciert wird das performative Element in „Calling Si­rens“ (2019), ein Klaviertrio, das die Zusammenhänge von Körperlichkeit und Klangartikulation zusammen mit einer Tänzerin erkundet. Allerdings wirkt das Stück akustisch auf sich allein gestellt seltsam spannungslos. Leider muss man das Fehlen der bei Huihui Cheng elementaren visuellen Komponente hier gelegentlich bedauern, was auch die Hinweise auf externe Video-links nicht wirklich verhindern können. (Wergo)

Timothy McCormack wurde 2018 mit dem Komponisten-Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung bedacht, nun ist seine beeindruckende erste Portrait-CD in der hauseigenen Edition erschienen. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen geht es dem australischen Komponisten um die „Erschaffung einer Welt außerhalb der Welt und innerhalb des Klangs.“ Scelsi lässt grüßen. Der Welt abhanden gekommen klingt diese Musik jedoch ganz und gar nicht, eher vollgesogen mit Energie. Was das Ensemblekollektiv Berlin da unter der Leitung von Enno Poppe in „KARST“ (2015/16) abliefert, klingt in seiner Massivität und Unmittelbarkeit manchmal wie entfesselte Naturgewalt. Vielleicht ist nach Ligeti und Xenakis keine Musik mehr geschrieben worden, die so intensiv auf die Oberflächen und Konsistenzen eines voluminösen Klangstromes aus ist: ein Ächzen und Bersten, Flimmern und Vibrieren, das unentwegt seine Farbe, Dynamik und Dichteverhältnisse ändert. Eine Aufhellung der zerklüfteten Klangtopografie ins Kammermusikalische hinein zeigt „karst survey“ für Kammerorchester und Elektronik (2016), vom Klangforum Wien nicht weniger spannungsgeladen realisiert. (Kairos)

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