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Weinbergs „Passagierin“ auf DVD.
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Beklemmende Überlagerungen

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Weinbergs „Passagierin“, Neuwirths „Orlando“ und weitere Opern neu auf DVD/Blu-ray
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Zwölf Jahre ist es her, dass Mieczysław Weinbergs Hauptwerk, die Oper „Die Passagierin“ ihre sensationelle szenische Uraufführung in Bregenz erlebte. Zusammen mit weiteren exemplarischen Wiedergaben seiner Partituren lösten die Festspiele damit – wahrscheinlich David Pountneys wichtigste Tat als Intendant – eine beispiellose Renaissance des Komponisten aus.

Der Autor dieser Zeilen gesteht, dass der Blu-ray-Mitschnitt der Maßstab setzenden Bregenzer Produktion seit seinem Erscheinen bei Arthaus 2015 ungeöffnet in seinem Regal stand. So einschneidend stark war der Eindruck damals gewesen, dass es sich nicht richtig anfühlte, diesen mittels Konserve aufwärmen zu wollen. Nun ist die Zeit aber gekommen, denn bei Naxos ist eine der seither zahlreichen Wiederaufführungen wiederum auf Bildtonträger festgehalten worden, was einen Vergleich herausfordert.

Um es vorweg zu sagen: Die Produktion der Grazer Oper, gefilmt im Februar 2021, steht derjenigen aus Bregenz in keiner Weise nach. Sie zeigt, dass Die Passagierin ein Meisterwerk des Musiktheaters des 20. Jahrhunderts ist, das grundverschiedene szenische und musikalische Zugriffe problemlos aushält, eine entsprechende Qualität vorausgesetzt. Die räumlichen Möglichkeiten des Grazer Opernhauses ließen einen großen, zweistöckigen Aufbau, wie ihn Johan Engels’ ingeniöse Bregenzer Szenerie so beeindruckend bot, nicht zu. Regisseurin Nadja Loschky und ihre Bühnenbildnerin Etienne Pluss zogen daraus die Konsequenz, die Rahmenhandlung der Schiffsreise – Lisa, die ehemalige KZ-Aufseherin, begegnet Marta, einer damaligen Gefangenen und damit ihrer Vergangenheit – und das Hauptgeschehen – die Auschwitz-Rückblenden – szenisch eng miteinander zu verschränken. Das ergibt eine beklemmende Überlagerung der grausamen Zustände und der Leidtragenden auf der einen und der Konfrontation der Täter mit ihrer Schuld auf der anderen Seite. Die im Gegensatz zu Pountneys Sepia-Naturalismus stilisiertere Bildsprache führt dabei aber keineswegs zu distanzierter Nüchternheit, sondern schärft vielmehr die inneren Konflikte.

Ähnliches gilt für den orchestralen Zugriff: Roland Kluttigs eher nüchternes, dabei aber konturgenaues Grazer Dirigat erreicht kaum einmal die emotionale Wucht, die Teodor Currentzis seinerzeit mit den Wiener Symphonikern entfachte. Durch die direktere, intimere Aufnahmetechnik entsteht dafür aber eine Nähe, die nicht weniger intensiv ist. Die Grazer Besetzung ist hervorragend: Dshamilja Kaiser (Lisa) und Nadja Stefanoff (Marta) liefern sich eindringliche Konfrontationen, die vielen wichtigen weiblichen Nebenrollen der Lagerinsassinnen ergeben ein anrührendes Kollektiv klar umrissener Einzelschicksale.

Wie in Bregenz, so kulminiert auch die Grazer Aufführung in Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita, die der Geiger Tadeusz (Markus Butter) dem Lagerkommandanten anstelle seines Lieblingswalzers zumutet. Das szenische Bild – im Hintergrund sind nackte tote Körper in Regalbrettern gestapelt – ist in seiner Drastik noch stärker als das Bregenzer Pendant.

Wie erschütternd dieses Bach-Zitat im Kontext von Weinbergs Partitur ist, wie souverän es musikdramaturgisch eingebettet ist, erkennt man dann noch einmal mit aller Deutlichkeit, wenn man die Szene mit Olga Neuwirths ähnlichem Versuch in ihrem 2019 an der Wiener Staatsoper uraufgeführten Orlando vergleicht. In dieser „fiktiven musikalischen Biografie“, so die Gattungsbezeichnung, erweitern sie und ihre Librettistin Catherine Filloux die Zeitreise aus Virginia Woolfs Vorlage nicht nur historisch bis in die jüngere Vergangenheit hinein, sie erweitern auch deren Themenspektrum. Von der Genderfluidität, die Woolf in ihrem Geniestreich mit unnachahmlicher Finesse und wunderbarem Witz entfaltete, versucht Neuwirth einen Bogen unter anderem zu Missbrauchsfällen im viktorianischen England und zum Holocaust zu spannen, wofür eine Bach-Originalaufnahme Arnold und Alma Rosés verwendet wird. Die thematische Erweiterung funktioniert leider nicht so wirklich, es entsteht ein Eindruck, der Woolf kaum ferner stehen könnte: der Eindruck ambitionierter Überfrachtung. Neuwirths virtuos Stile durcheinanderwirbelnde Musik kommt leider nur selten zu sich, die wenigen Momente, in denen wir Orlando, sei es als Mann oder als Frau, näher kommen, werden allzu schnell durch musikalischen und szenischen Aktionismus überspült. (C Major)

Größtmögliche szenische Reduktion pflegte dagegen John Eliot Gardiner mit den Produktionen von Monteverdis „L’Orfeo“ und „L’incoronazione di Poppea“, die er 2017 am Teatro La Fenice in Venedig nicht nur als Dirigent, sondern auch als Regisseur leitete. Die Sängerinnen und Sänger in schlichten, ihre Rollen lediglich andeutenden Kostümen scharen sich um die in zwei Blöcken links und rechts postierten English Baroque Soloists. In diese Schlichtheit und Konzentration aufs Wesentliche, die ohne Bühnenbild auskommt, sticht im Orfeo der Auftritt der „Messagiera“ wie der Schlangenbiss, von dem sie kündet. Ein durchdringender, beinahe geschriener Ton der großartigen Lucile Richardot, ein Auftritt aus dem Zuschauerraum – mehr braucht es nicht, um Monteverdis schon zu Beginn der Gattungsgeschichte vollendete Operndramatik zu entfachen. Krystian Adam als Orfeo und Hana Blaziková als La Musica und Euridice führen ein großartiges Ensemble an. (Opus Arte)

Etwas mehr szenische Bewegung wäre indes im Fall der Poppea wünschenswert gewesen, um die vornehmlich rezitativische Musik stärker zu beleben. So konzentriert sich hier alles auf den Gesang, was bei Stimmen wie denen von Gianluca Buratto (Seneca) oder wiederum Hana Blaziková (Poppea) kein Fehler ist. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dabei der phänomenale Countertenor Kangmin Justin Kim, der mit faszinierender Ausstrahlung einen bedrohlichen, unberechenbaren Nero gibt. (Opus Arte)

Die voll besetzten Zuschauerreihen erinnern uns daran, wie es früher mal war in der Oper. Im Februar 2021 sah das an der Staatsoper Unter den Linden schon anders aus. Das Parkett bevölkerte in Leos Janáceks Jenufa einzig der Chor. In einem neonerleuchteten Sakralinnenraum mit Acrylcharme herrscht Eiseskälte. Mit intensivem Gesang und guten darstellerischen Leistungen machen Camilla Nylund in der Titelpartie, Stuart Skelton als Laca und vor allem Evelyn Herlitzius als Küsterin das Distanzgebot vergessen, mit dem Regisseur Damiano Michieletto in dieser pandemischen Produktion zurecht kommen musste. Auch Simon Rattle macht mit der Staatskapelle aus der Not einer leicht reduzierten Bläserbesetzung eine expressive Tugend. (C Major)

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