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Holger Noltze (2011). Foto: Hufner
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Die Schanzwerke der alten Welt

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Kleine Rückschrift auf Bojan Budisavljevics „Brave New Music World“ · Von Holger Noltze
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„Zu Holger Noltzes elegantem Versuch, die Digitalisierung zu reiten“, lese ich als Teaser über Bojan Budisavljevics eleganter Rezension meines Wunderkammer-Buchs (nmz 7-8/2020, S. 17). Erst denke ich, es meint gewiss „retten“ (weil ich mich der schönen neuen Welt des Digitalen womöglich so bedenkenlos retterisch näherte). Am Ende, denke ich, könnte es aber doch, wie es da steht, „reiten“ meinen, denn da finde ich mich, bei allem Wohlwollen und freundlicher Einlässlichkeit des sehr geschätzten Kollegen, doch mit in den Sattel als eine Art Don Quijote der digitalen Welt gesetzt, in der zur Vergeblichkeit verurteilten Aventüre, dem grundsätzlich Falschen nun irgendwie „Gutes abgewinnen“ zu wollen. Netter Versuch.

Sitze ich da richtig? Immerhin ist der Ritter von der traurigen Gestalt einer der Helden meines Buchs, das sich vorgenommen hat, nach der Kritik an einer selbstzufriedenen, aber schlechten, ihren Gegenstand verfehlenden (Musik-) Vermittlung1 nun, andersherum, einen neugierig-pragmatischen Blick auf die Möglichkeiten der Digitalisierung2 zu werfen; andersherum gegenströmig, wo diese Revolution ja gerade von Akteuren und Entscheidern des kulturellen Betriebs ebenso ahnungslos gefeiert (als Projektionsfläche alles Möglichen) wie (häufiger) beargwöhnt erscheint. Don Quijote ist mein Held, eine Denk-Figur, von seinem Autor in den Kampf gegen Windmühlenflügel und Scheinriesen geschickt, angeblich um zu zeigen, wie ihm die Überdosis Lektüre von Ritterromanen das Hirn mürbe gemacht und die Realitätswahrnehmung getrübt habe, raffinierterweise aber als ironischer Ritter ausgeschickt gegen die (damals vor allem kirchliche) Kritik am sich massenhaft verbreitenden Medium des gedruckten Worts; Ritterromane waren aus Sicht der Orthodoxie eben Teufelszeug. Die Pointe war natürlich, dass Cervantes‘ genial Medienkritik-kritischer Versuchs­aufbau einen sehr guten Roman hervorbrachte. Don Quijote mochte an Windmühlen scheitern, aber er öffnete eine Tür zur Literatur der Zukunft.

Dem darf ich mich kaum als Copilot mit auf den Klepper setzen, allenfalls in gebührendem Abstand hinterherzotteln. Jedenfalls aber in der Hoffnung, dass diejenigen, denen an der ästhetischen Erfahrung, Erschließung, Entzifferung etwa von Musik als Kunst gelegen ist, hinter den selbsterrichteten Denk-Schranken und kritischen Reflexen an der Schwelle des digitalen Zeitalters noch allerhand Mögliches entdecken könnten, von dem wir heute nur ahnen, weil der größere Teil dieses gewaltigen Transformationspotenzials nun einmal noch gar nicht sichtbar ist. Don Quijote ist mein Held, weil er das Muster solcher Medienkritik sichtbar macht, und das, Anfang seines 17. Jahrhunderts, ganz unverdächtig der Ranschmeißerei ans Internet und seine ganz anders schlimmen Folgen.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Sorge, dass gerade diejenigen, denen die Freuden und Reichtümer des analogen Kosmos aus Musik als Kunst am Herzen liegen, aus reflexhafter Verachtung des Digitalen und seiner ja fraglos problematischen Dynamiken die Gelegenheit versäumen, dieses eben entstehende Neue mitzudenken und mitzuentwickeln und dabei den Einfallsreichtum, die Differenzierungsfähigkeit, das Urteilsvermögen, die formale Intelligenz einzubringen, auf die „wir“ uns soviel zugute halten. „World Wide Wunderkammer“ war, an dieser gut erklärbaren Verstehensbarriere, ziemlich unheroisch gedacht als eine Art Übersetzungshilfe; unheroisch, weil es mir angesichts des in der digitalen Sphäre grassierenden Guru-Wesens und ihrem Gegenstück, der gro­ßen Glaubens-Bereitschaft des Publikums, nicht angemessen erschien, mit Patentrezepten oder Fundamentalkritik aufzuwarten. Meine Wahrheit liegt dazwischen, eben weil ich unsere Lage eben da vermute, im Dazwischen.

Für Bojan Budisavljevics Kritik bin ich nun ehrlich dankbar, weil sie so beherzt an diesem bescheidenen Ansinnen vorbeisieht – und zugleich exemplarisch deutlich macht, was mein Thema ist. Dass die Schanzwerke der alten Welt so fest sitzen, hätte ich nun aber doch nicht erwartet. Von Master/Slave-Verschaltungen über Hegels Herr und Knecht-Metaphorik und Kittlers frühen, in der Tat gespenstisch präzisen Kriegsvorhersagen einer Welt aus Nullen und Einsen bis hin zum realen Elend von minderjährigen T-Shirt-Näherinnen in Bangladesch rauscht es da in einem Schwung, vor dem man erstmal in Deckung gehen muss. Und die rhetorische Engführung der Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse in Kambodscha und der Situation der nicht erst seit Corona prekär gewordenen Freien-Existenzen hierzulande erscheint mir, nun ja, überspitzt.

Ja, man kann hängen an den „Dingen alter Schriftlichkeit“, an Vinyl, Leiblichkeit, am Schweißgeruch von schwer arbeitenden Künstlern, am ganzen „Buchstaben- und Notenkrams“, und mag doch Budisavljevics Vorstellung vom digitalen Sündenfall, der unumkehrbaren Auflösung sämtlicher Materialität in kalte Zahlenkolonnen, nicht folgen. Die Frage nach den Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung in der digitalen Revolution zu stellen, heißt eben nicht, Spotifys grauenhaft monotone Playlist-Policy zu feiern; doch an Budisavljevics Pentagramme zur Abwehr des All-Bösen mag ich noch weniger glauben. Der schwarze Pudel ist ja längst im Haus. Fällt uns mehr nicht ein als Abschalten?

Dass in diesem Buch das Streaming „auch für die Klassik alternativlos anempfohlen“ werde, scheint mir noch ein vielsagendes Missverständnis. Es will eben so gesehen werden: hier werde das analoge Konzert verzichtbar erklärt, immerhin „betreibt“ der Verfasser ja mit takt1 eine Streamingplattform. Darf er das? An den Monopolen des öffentlich-rechtlichen Systems vorbei zu erproben, ob die Zugänglichmachung und sachverständige Kuratierung von klassischer Musik auch eine Angelegenheit jenseits gebührenfinanzierter Sicherheitsnetze sein könne, einer kommenden Generation von Musikjournalist*innen neue Arbeitsfelder erschlösse und dem Publikum der Restwelt auch jenseits von ARD, ZDF, Arte und ORF unkompliziert einen Eindruck von der Arbeit außerordentlicher Musiker*innen zu geben, nicht besser als im Saal, aber als mit Liebe zur Sache hergestellte zweitbeste Möglichkeit? Mit der Chance, einen Erlös, wenn es ihn denn gäbe, mit denen zu teilen, um deren Kunst es am Ende geht?3 Darf das?

In Bojan Budisavljevics von Expropriierungsfantasien und menschenfresserischer Verwertungslogik regierter Weltsicht darf es das alles nicht. Schon der Versuch wird belangt beziehungsweise belächelt. Tanz mit dem Teufel, bestenfalls naiv, vergeblich sowieso.

Also doch Quijote? Zuviel der Ehre, aber ich reite erstmal weiter, beziehungsweise zottele. Vielleicht setzen wir das Gespräch bei Gelegenheit fort, irgendwo in der Weite der Mancha, oder der nmz. Ist ja doch ein Thema.

Anmerkungen

1) Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität. Hamburg 2010.
2) World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution. Hamburg 2020
3) Und über solches Tun im größeren Rahmen nachzudenken, ohne es in den Fokus zu stellen, sondern nur in einer Fußnote darzulegen, dass es zur Theorie auch eine Praxis gibt.

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