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Die verschwenderische Ornamentik der 50er

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Jazzneuheiten, vorgestellt von Marcus A. Woelfle
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„The Greatest Piano Of Them All“ +++ „The Art Tatum Buddy DeFranco Quartet“ +++ „Oscar Peterson and Friends“ +++ „Billie Holiday/Buddy DeFranco Quartet Live in Cologne“

„Man hat einen neuen Trick herausgefunden, die Leute glauben zu machen, dass ein Mann Klavier spielt; dabei weiß ich doch, es sind mindestens drei“, meinte der Pianist Hank Jones, als er erstmals Art Tatum im Radio hörte. 27 Standards spielte Tatum am 22. April 1954, allesamt erste Takes. Neun Balladen aus dieser Mammutsitzung bildeten ursprünglich das Album „The Greatest Piano Of Them All“; sieben weitere Perlen des Tages ergänzen diese Edition, in der auch die „liner notes“ seines Freundes Oscar Peterson nicht fehlen. Wenige marktschreierische Titel haben so sehr Berechtigung wie der dieses Albums. Liest man Tatum rückwärts, erhält man „mutat“ (lat.: „Er verändert“). Sein Interpretationsansatz änderte sich zwar selten, doch waren Standard-Themen unter seinen Fingern den feinsinnigsten Wandlungen unterworfen. Für die meisten Jazzpianisten ist das Akkordgerüst eines Themas ein Sprungbrett für thematisch entlegene Improvisationen. Nicht so bei Tatum. Kühn reharmonisiert, paraphrasiert, mit Fremdzitaten angereichert, in barocker Lebensfülle vorgetragen und von wahrlich verschwenderischer Ornamentik umrankt klingt das Thema stets durch, aber eben so wie ein durch die unterschiedlichsten Farblichtspiele eines Kaleidoskops gebrochenes Bild. Der Genuss wird sich nur bei jenen Hörern einstellen, die die Melodien gut kennen, die damals Allgemeingut waren – was den heutigen Popularitätsverlust Tatums erklärt. Für Otto Normalhörer ist Tatum leider nur ein verwirrendes Rauf und Runter rasender Arpeggien und Skalen. Wer noch nie eine Aufnahme des harmonisch wegweisenden Pianisten gehört hat, der im Alleingang die ganze vorherige Jazzpianogeschichte zu einem eigenen Universum verarbeitet hat, weiß wenig über die Themenverwandlungskunst im Jazz. (Poll Winners Records)

Den Gipfel seiner Kunst erklomm Tatum wenn er alleine spielte. Im Gruppenspiel konnte er zwar einige seiner Lieblingstricks nicht so leicht bewerkstelligen – etwa plötzlich das Tempo wechseln oder die Harmonien ganz umkrempeln –, aber gewinnend war allemal, was entstand, wenn er mit Virtuosen seines seltenen Kalibers spielte. Einer von ihnen war Buddy DeFranco, der in Chronologie und Rang erste Bebop-Klarinettist – ein Musiker, der scheinbar einem anderen Lager angehörte als der noch vom Stride-Piano kommende Tatum und doch kompatibel, nein kongenial, beseelt und beflügelt mit ihm musizierte. Die Aufnahmen widerlegen die gelegentlich an DeFranco geübte Kritik, sein Spiel sei nur technisch beeindruckend, aber sein Sound lasse kalt. DeFranco betrachtete den blinden Tastenmagier als einziges Genie neben Charlie Parker (der sich einmal in einem Lokal als Tellerwäscher anstellen ließ, um täglich Tatum zu hören, was nicht unmaßgeblich auf die Harmonik des Bop wirkte.) Nur einmal haben sie sich im Studio getroffen, im Todesjahr Tatums, dessen schwere Krankheit nicht die geringste Spur in seinem Spiel hinterließ. Diese beglückende Kommunikation der Generationen (die nebenbei die harmonische Modernität Tatums illustriert) findet sich auf „The Art Tatum Buddy DeFranco Quartet“ mit Red Callender (b) und Bill Douglas (dr). Auf dieser Reissue wird es um alle alternate takes und zum Vergleich um drei Soloversionen Tatums der nämlichen Stücke ergänzt. (Poll Winners Records)

Wer dann noch weiter vergleichen will, findet auf der 10-CD-Box „Oscar Peterson and Friends“ zwölf legendäre (aber auch ausgefallene) Alben der 50er-Jahre, unter denen die Spitzentreffen mit Lester Young, Ben Webster und Stan Getz herausragen, auch zwei Alben mit Buddy DeFranco. (Documents)

Wer einen besonders quirlig aufspielenden Buddy DeFranco mit seinem damaligen regulären Klavierpartner, den markanten Hardbopper Sonny Clark hören will, greife zu einem Rundfunkmitschnitt eines Doppelkonzertes: „Billie Holiday/Buddy DeFranco Quartet Live in Cologne“. Sie sind ein würdiges Testament des Heiligabend 2014 verstorbenen DeFranco, der wie kein anderer Birds vogelflugartige Leichtigkeit auf die Klarinette übertrug. (Jazzline) 

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