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Offenbar muss der Markt erst reichlich mit Beethoven gesättigt sein, um nun auch in den Umkreis zu schauen, wie dies gerade Sony mit Reinhard Goebel in der Reihe „Beethoven’s World“ versucht.
Offenbar muss der Markt erst reichlich mit Beethoven gesättigt sein, um nun auch in den Umkreis zu schauen, wie dies gerade Sony mit Reinhard Goebel in der Reihe „Beethoven’s World“ versucht.
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Große Lust, hoher Adrenalinpegel

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Beethoven und Zeitgenossen im Doppelsinn – eine Tonträger-Nachlese zum Jubiläumsjahrgang
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Was wäre Musik ohne ihre großen Genies und Helden? Nein, die Diskussion über den Sinn (oder Unsinn) der wichtigsten Namen oder eines verbindlichen Kanons muss nicht erneut angefacht werden. Unbestritten dürfte zumindest sein, dass es rezeptionsgeschichtlich maßgebliche Schlüsselwerke gibt, an denen man nicht vorbei kommt.

Sicher ist aber noch mehr, dass selbst Beethoven (und sein Œuv­re) nicht ohne Umfeld und Zeitgenossen gedacht werden kann – genauer: dass er selbst einst Zeitgenosse war und dies bis heute, wenigstens in der schöpferischen Auseinandersetzung, auch geblieben ist. Und so mag es der Musikindustrie zwar gefallen, eine ganze Heerschar von Interpreten mit den großen und größten Kompositionen des Bonner Meisters zu propagieren und promoten. Doch zeigte das nun auch verlängerte Jubeljahr, wie uninteressant oder gar uninspiriert die zigste Einspielung der Sinfonien, Sonaten oder Streichquartette sein kann, wenn die Kontexte und Vergleichsmöglichkeiten fehlen – in einer Zeit, in der auf anderen Feldern des Lebens gerne der Blick durch die komplexen Strukturen hindurch auf das große Ganze gerichtet wird.

Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass die EMI im Jahre 1974 eine LP-Box unter dem Motto „Beethoven. Seine Freunde und Schüler“ herausbrachte (ähnlich dann auch etwas für Mozart und Schubert). Damals eine von Dieter Klöcker und dem Consortium Classicum angestiftete Revolution, die allerdings folgenlos blieb. Inzwischen haben Werke von Anton Reicha, Ferdinand Ries, Johann Ladislaus Dussek und Carl Czerny einen festen Platz auf zahlreichen CDs gefunden – allerdings noch immer als Rarität, die sich behaupten muss. Da mag es etwas seltsam anmuten, wenn im Jahre 2020 einzelne Neueinspielungen mit Musik dieser einstigen Zeitgenossen noch als Entdeckungen gefeiert werden.

Offenbar muss der Markt erst reichlich mit Beethoven gesättigt sein, um nun auch in den Umkreis zu schauen, wie dies gerade Sony mit Reinhard Goebel in der Reihe „Beethoven’s World“ versucht: Den drei Einzel-CDs, zuletzt mit den beiden Violinkonzerten von Franz Joseph Clement oder Doppel-Klavierkonzerten von Anton Eberl und Dussek, werden hoffentlich noch weitere mutig folgen. Harmonia Mundi hat mit „20/27“ gleich ein größeres Projekt initiiert, das Beethoven in direkte Beziehung setzt – meist mit sich selbst, im Bereich der Sinfonien aber auch höchst instruktiv und erhellend mit Werken von CPE Bach, Etienne-Nicolas Méhul, Paul Wranitzky, François-Joseph Gossec und Justin Heinrich Knecht. Mit den aneckenden, auf herausragendem Niveau stehenden Interpretationen von Les Siècles und der Akademie für Alte Musik Berlin ist das ein wahres Hörvergnügen. Dass dieses gegenseitige Ergänzen auch bestens im Bereich der Kammermusik funktioniert, zeigt das casalQuartett mit seiner Box „Beethovens Welt 1799–1851.

Der Revolutionär & seine Rivalen“ (SoloMusica), wobei sich die Alliteration im Titel allerdings allzu kämpferisch versteigt. Dass Beet­hovens Volkslied-Variationen für Flöte keine ‚Ausrutscher‘ sind, sondern in einem geradezu aufregenden Zusammenhang mit Werken von Franz Doppler, Friedrich Kuhlau und Eugène Walckiers gehört werden müssen, macht Anna Besson auf faszinierende Weise deutlich (Alpha), und beim Septett op. 20 bleibt für mich auf lange Sicht die im doppelten Sinne großartige Interpretation und Kombination mit der „Grande Symphonie de salon“ von Anton Reicha durch das Ensemble Le Concert de la Loge allererste Wahl (Aparte). Dass übrigens auch Reicha im Jahre 1770 geboren wurde – geschenkt.

Beethoven aber nun mit zeitgenössischer Musik unserer Tage zu verbinden, ist seltsamerweise ein rares Unterfangen. Hängt dann doch die Messlatte zu hoch? Fehlt die ästhetische Kompatibilität? Hinweis auf mögliche Antworten geben gerade einmal drei mir vorliegende Produktionen älteren wie neueren Datums: So wurden schon früher im Rahmen der „Edition Klavier-Festival Ruhr“ Auszüge aus dem 2007er-Programm unter dem Motto „Beethoven und … & Neue Klaviermusik“ sauber auf den CDs getrennt vereint (Cavi).

Gegeneinander stehen indes Beethoven und Harrison Birtwistle bei Nicolas Hodges und seinem „bag of bagatelles“ (Wergo), Rudolf Buchbinder regte insgesamt elf Komponist*innen zu „New Variations“ über den unverwüstlich biegbaren Diabelli-Walzer an (Deutsche Grammophon). Sich Beethoven über diesen Rand der kleinen Formen und Formate zu nähern, gilt auch für das nur in digitalen Alben verfügbare Klavier-Projekt von Susanne Kessel (siehe hierzu den Artikel auf Seite 18). Im übrigen scheint der Remix vorhandenen Materials ein Allheilmittel der nachschöpferischen Auseinandersetzung zu sein: mit viel glitzerndem Weichspüler bei Arash Safaian und Sebastian Knauer auf dem ehrlich betitelten Album „This is (not) Beethoven (Modern Recordings)“, live gespielt und doch mühsam-bemüht in Gabriel Prokofievs „BEETHOVEN9 Symphonic Remix“ (Naxos), oder eben doch mit großer Lust und hohem Adrenalinpegel durch Wolfgang Mitterers musikalische Achterbahn bei „Nine in One“ (col legno).

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