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Nicht mehr fliehen

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Filmmusikalische Experimente von Gerhard Rühm und Olga Neuwirth
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In den letzten Jahren haben Filmwissenschaftler mit viel Elan an der Pflege des filmhistorischen Erbes gearbeitet. So wurden inzwischen fast alle Stummfilmklassiker der Weimarer Republik mit viel Sorgfalt vorbildlich restauriert. Als Begleitprogramm zur neuen Staffel von „Babylon Berlin“ zeigt die ARD in ihrer Mediathek sogar zurzeit eine Auswahl dieser Weimar-Klassiker, von Langs „Metropolis“ bis zu Murnaus „Der letzte Mann“. Gleichzeitig ist nun endlich auch bei Absolut Medien „Die Stadt ohne Juden“ mit dem Score von Olga Neuwirth auf DVD/BluRay erschienen. Und wie der Zufall so spielt, hat nun auch noch der Pay-TV-Sender Sky einen „Solitär“ der deutschen Filmgeschichte der frühen Nachkriegszeit ausgegraben: Herbert Veselys Experimentalfilm „Nicht mehr fliehen“ mit einem Score des jungen Gerhard Rühm.

An die Regisseure der Weimarer Republik wollten die Unterzeichner des „Oberhausener Manifest“ 1962 anknüpfen. Neben Alexan­der Kluge und Edgar Reitz gehörte zu dieser Gruppe auch Herbert Veseley, der damals mit der Böll-Verfilmung „Das Brot der frühen Jahre“ (mit einem Jazzscore von Attila Zoller) den Startschuss geben sollte zum so genannten „Neuen Deutschen Film“, der mit Kluges „Abschied von gestern“ ab den späten Sixties so richtig in Fahrt kommen sollte. Vesely war neben Hansjürgen Pohland, der mit „Tobby“ einen herausragenden Debütfilm abgeliefert hatte, der einzige Regisseur der „Oberhausener“, der bereits 1955 einen Achtungserfolg erzielt hatte, mit seinem mittellangen Experimentalspielfilm „Nicht mehr fliehen“. Ein legendärer „Solitär“ der deutschen Filmgeschichte, produziert vom großen Hans Abich, der die Filmkunst der frühen Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt hat. Inspiriert von Cocteaus „Orphée“ und Camus’ Existentialismus inszenierte Vesely ein Endzeitszenario, das Hans Helmut Prinzler so beschreibt: „Eine Steinwüste, ein kahler Meeresstrand, ein Frauengesicht, ein einsames Kind, Szenen der Gewalt, ein Schienenstrang, ein Bunker.“ Und dazu erklingt Zwölftonmusik des jungen Gerhard Rühm, die durchsetzt ist mit Sprachfetzen und Geräuschen. Wenn man will, ist Rühms Score das „Link“ zwischen der „Wiener Gruppe“ (um Artmann, Wiener, Bayer), die er mitbegründet hat und seinen späteren Experimenten im „Neuen Hörspiel“, bei denen er sich in die Grenzbereiche von Musik und Sprache wagte. Ausgerechnet der Pay-TV-Sender Sky (und nicht arte) hat nun diesen fast „unsichtbaren“ Schatz wieder ausgegraben. Und wird ihn 65 Jahre nach seiner Kinopremiere zum ersten Mal im deutschen Fernsehen zeigen, am 4. Oktober um 22.00 Uhr.

Vorbildliche Arbeit im Stummfilmmusikbereich leistet für arte seit den neunziger Jahren die ZDF-Redakteurin Nina Goslar, die auch für die Produktion des neuen Scores von Olga Neuwirth zu „Die Stadt ohne Juden“ mitverantwortlich ist. „Die Stadt ohne Juden“ von 1924 gehört filmhistorisch zu den wichtigsten Werken der österreichischen Filmgeschichte. Der visionäre Film (mit einem jungen Hans Moser!) basiert auf dem gleichnamigen „satirischen Roman“ von Hugo Bettauer, der mit dem Gedanken spielt, was passieren könne, wenn ein Staat seine jüdische Bevölkerung zur Emigration zwingt, um die eigene Wirtschaft zu sanieren. Der Autor des hellsichtigen Romans wurde ein Jahr nach der Uraufführung von einem Rechtsradikalen ermordet. Der Regisseur des Films, Hans Karl Breslauer dagegen trat 1940 in die NSDAP ein. Der Film galt lange als verschollen. Erst in den frühen Neunzigern ist im Niederländischen Eye-Filminstitut eine gekürzte Version aufgetaucht. Als Sensation galt 2015 der Fund einer weiteren Nitro-Kopie mit den fehlenden Szenen in Paris.

Sofort übernahm das Filmarchiv Austria die aufwändige Res­taurierung des Films. Für den neuen Score wurde Olga Neuwirth verpflichtet, die Buch und Film bereits während ihrer „Identitätssuche“ in den frühen neunziger Jahren kennen gelernt hatte. Als sie 2016 vom Wiener Konzerthaus angesprochen wurde, die Musik zu der  Weltpremiere der restaurierten Fassung von  „Die Stadt ohne Juden“ zu komponieren, schlug sie sofort zu. Ein Glücksfall, wie sich herausgestellt hat. Wie sie im Booklet schreibt, ging es ihr bei ihrem Score nicht nur um den „tief in der österreichischen Seele verwurzelten Antisemitismus, sondern auch um Identität und Fremdheit, Heimat und Flucht“. Deshalb entwarf sie auch einen Mix aus österreichischen Jodlern und Heurigenliedern, die einst Hans Moser gesungen hat. Und auch „Immer wieder Österreich“, die Hymne der FPÖ, spukt in ihrem Score herum.

Gewidmet hat sie ihre Filmmusik dem Andenken an Eric Pleskow, der nach dem „Anschluss“ Österreich hatte verlassen müssen, und in den USA zu einem der wichtigsten Filmproduzenten der 1970er-Jahre wurde. Olga Neuwirths wehmütiger und auch ironischer mit Samples durchsetzter Score, der ganz dem Film dient, gehört zu ihren bisher besten Werken, ist ihr vielleicht schönster Beitrag zu ihrer „Identitätsfindung“.

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