Hauptbild
Mit Freude dabei: Hörspielproduktion mit Flüchtlingen. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker
Mit Freude dabei: Hörspielproduktion mit Flüchtlingen. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker
Banner Full-Size

Von der Trommelgruppe zur Sprachförderung

Untertitel
Flüchtlingsprojekte der Musikschule Bochum
Publikationsdatum
Body

Musikschule und Flüchtlinge – das ist keine Verbindung, die sich auf den ers-ten Blick aufdrängt. Der regelmäßige, kontinuierliche Unterricht über Jahre hinweg, die jahrhundertelange Tradition der Meister-Schüler-Ideologie, hochprofessionelle Lehrkräfte – diese Qualitäten haben den Musikschulen einen gediegenen Ruf eingebracht. Für die musikalische Arbeit mit Geflüchteten sind sie aber keine hinreichende Basis. Gefordert sind hingegen andere Qualitäten: Offenheit in den Formen, Flexibilität in der Verwaltung, breite Kooperation mit Sozialeinrichtungen und spontanen Hilfsinitiativen.

Auch die Musikschule Bochum war nicht gut vorbereitet. Obwohl Innovationen der Musikschule Bochum nicht fremd sind, beginnt die Geschichte mit einem Impuls am Rande des Unterrichtsbetriebes: Der Förderverein finanziert eine erste Trommelgruppe in einer Erstaufnahmeeinrichtung, in der die Einwohner nahezu wöchentlich wechseln.

Schnell eröffnen sich alle Fragen, die sich eine Musikschule stellen muss: Was wollen wir damit? Wohin soll es gehen? Wo sind die Grenzen? Wo bleibt die Nachhaltigkeit? Wie wird es finanziert?

Es ist einleuchtend: Musizieren kann einen sinnstiftenden Effekt im Rahmen der langwierigen Wartezeiten in Erstaufnahmeeinrichtungen leisten, realisiert Willkommenskultur und schafft Kontakte zwischen den Ankommenden und der Aufnahmekultur. Musik hat – gemeinsam mit dem Sport – einen ers-ten Platz bei der Integration. Die Formen sind weit gespannt: von der spontanen Trommelgruppe bis zum festen Ensemble – wobei Regelmäßigkeit und Konstanz häufig nicht realisierbare Anforderungen sind. Die Unterstützung des Spracherwerbs ist die zweite Aufgabe, mit der Musikschulen tätig werden können: eine Aufgabe mit hoher gesellschaftlicher Relevanz.

Praxis der Bochumer Musikschule

Seit November 2014 sammelt die Musikschule Bochum mit verschiedenen Versuchen erste Erfahrungen. Die erste Aktion, Musiker in den Unterkünften zu suchen und mit ihnen eine Band zu gründen, scheitert krachend – trotz vielsprachiger Flyer und Unterstützung durch städtische Sozialarbeiter. Ein Jahr und viele Erfahrungen später: Die bürgerschaftliche Hilfsinitiativen haben sich organisiert, es besteht ein Netzwerk, das sich per Mail ansprechen lässt. Die Einladung zum Start einer Trommelgruppe geht nun ohne Übersetzung per Mail an 60 Initiativen, die die Einladung ihrerseits weiterschicken. Erfolg: 11 geflüchtete junge Männer und drei Deutsche sind gekommen – es kann losgehen.

Diese offenen Trommelgruppen mit allwöchentlich wechselnden Mitspielern in den „Erstaufnahmeeinrichtungen“ funktionieren von Anfang an gut. Der Hausmeister lagert 15 Djembes und Cajons. Getrommelt wird mit Menschen jeden Alters und ungezählten Nationalitäten. Als einer der ersten Schritte wird eine Spendenaktion ins Leben gerufen: „Trommeln für Flüchtlingskinder“. Der Förderverein sammelt damit Geld, das er der Musikschule zur Verfügung stellt. Eine wichtige Quelle angesichts städtischer Geldnot und eingefrorenem Personalkostenbudget.

Ohne Kooperation geht nichts

Der Königsweg ist die Kooperation. Es ist schwer, Geflüchtete in die Musikschule zu holen. Warum nicht dorthin gehen, wo sie sich aufhalten und betreut werden? Absolut notwendig ist der Kontakt zu Initiativkreisen, in denen sich Flüchtlingshelfer und deren Institutionen austauschen und koordinieren. Dort finde ich die Partner, die für erfolgreiche Aktionen nötig sind.

Sind die Kinder geflüchteter Familien im Grundschulalter und besteht Schulpflicht, treffen die Kinder in der Grundschule auf das Programm „Jedem Kind ein Instrument“ – JeKi (seit 2015 umbenannt in JeKits), das in Bochum nahezu alle Grundschulen umfasst: Alle Flüchtlingskinder im ersten Schuljahr sind automatisch in der JeKi-Klasse. Der sich anschließende Instrumentalunterricht steht ihnen wie allen anderen Kindern offen, die ersten zwei Jahre kostenfrei – danach mit halbierten Kosten, in Härtefällen auch vollständig frei.

Der konventionelle Instrumental- und Gesangsunterricht steht Flüchtlingen ebenso offen. Den Interessen der Flüchtlinge kommt entgegen, dass die früheren Wartelisten der Musikschule nicht mehr vorhanden sind. Das JeKi-Programm mit seinen gut 5.000 Unterrichtsplätzen in Bochum und die stärkere Beanspruchung der Zeitbudgets der Schülerinnen und Schüler haben die Wartelisten für fast alle Instrumente abgebaut. Daher können Unterrichtswünsche heute wesentlich kurzfristiger erfüllt werden als noch vor einigen Jahren. Im Frühjahr 2016 sind es rund 30 Kinder und Jugendliche, die in den Ins-trumental- und Gesangsunterricht aufgenommen werden wollten und konnten. In den Gruppen der elementaren Angebote werden Flüchtlingskinder ohne Formalitäten zunächst als Gäste aufgenommen. Bleiben sie länger dabei, ist das kostenfrei möglich.

Zusammenarbeit mit dem Kultursekretariat NRW

Seit Mai 2015 experimentiert die Musikschule im Auftrag des NRW-Kultursekretariats mit weiteren Formen der musikalischen Flüchtlingsarbeit. Das Kultursekretariat sucht nach kreativen und zielgerichteten Formen kultureller Praxis, die exakt auf die Situation der Geflüchteten zugeschnitten sind und die von anderen Kulturinstituten in den Städten übernommen werden können. Ein Beispiel sind „Musikalische Visitenkarten“. Damit sind kurze Videoclips gemeint, mit denen sich interessierte Flüchtlinge vorstellen. Eine kleine musikalische Darbietung, gefolgt von einem standardisierten Interview: eine moderne Visitenkarte, die auf Smartphones geteilt werden kann. Die ersten Visitenkarten sollen im Mai 2016 in einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert werden.

Sprachdidaktiker wünschen sich Methodenvielfalt und eindringliche Lernhilfen. Was könnte es besseres geben, als die Aussprache singend zu trainieren, Vokabeln in Liedtexten zu festigen und grammatikalische Wendungen durch Merksprüche im Gedächtnis zu fixieren?

Wie viel schneller kann man Sprache lernen, wenn den einzelnen Lektionen musikalische Lernbegleitung zur Seite gestellt werden könnte, die genau auf die Lerninhalte zugeschnitten sind? Mehrere Sprachlernklassen, in denen Musikpädagogen begleitend teilnehmen, haben ihre Arbeit aufgenommen. Es entsteht ein musikalisches Begleitcurriculum, das allgemein zugänglich gemacht werden soll.

Auch die Hörspielproduktion kann das Deutschlernen unterstützen. In Kooperation mit dem Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg in Bochum gab es bisher zwei Hörspielprojekte. Gemeinsam mit der Projektleitung wird das Thema ausgesucht und bearbeitet. Mit viel Musik und Geräusch garniert, wird eine akustische Version des Hörspiels auf CD gebrannt. Nach Aussage der Sprachlehrer zieht die Projektarbeit sprunghafte Fortschritte der Schülerinnen und Schüler nach sich.

Die mitgebrachten Kulturen der Flüchtlinge sind ein Geschenk. Die Kulturfusion, Verbindung und Vermischung fremder Kulturen, ist seit jeher ein Motor kultureller Evolution. Um das zu nutzen, müssen die Musiker zum gemeinsamen Musizieren angeregt werden. Unsere bisherigen Versuche waren noch erfolglos. Wir probieren es aber weiter mit unterschiedlichen Ansätzen: Mit Sessions, mit der Weiterentwicklung von Trommelgruppen zu Popgruppen und durch die Einladung einzelner Musiker in bestehende Gruppen.

„Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ sind eine Gruppe, die besondere Beachtung braucht. Sie werden in existierende Popgruppen eingeladen, zum Beispiel in Rockbands, die mit Mitteln des Projekts „Kultur macht stark“ eingerichtet wurden. Allerdings lässt die Konstanz des Besuchs sehr zu wünschen übrig und ist stark vom Einsatz begleitender Betreuer abhängig.

Aspekte eines Konzeptes

Aus dem ersten Jahr mit Vorhaben unterschiedlichster Art entsteht eine Vorstellung von den Kriterien, denen erfolgreiche und wirksame musikalische Arbeit der Musikschule mit Flüchtlingen genügen sollten.

An folgenden Leitlinien sollen sich die zukünftigen Aktionen mit und für Geflüchtete orientieren:

  1. Integration: Fördert die Aktion die Integration der einwandernden Menschen in die Aufnahmegesellschaft?
  2. Gemeinsamkeit: Verbindet die Aktion Geflüchtete und Einheimische und können Beziehungen geschaffen werden?
  3. Teilhabe: Verbessert die Aktion eine Teilhabe am einheimischen Kulturleben?
  4. Fusion: Regt die Aktion zur Verbindung von eingewanderter und einheimischer Kultur an zugunsten einer neuen, „fusionierten“ musikalischen Ästhetik?
  5. Kooperation: Führt die Aktion neue Kooperationspartner zusammen?

Für die Musikschule Bochum eröffnet sich ein komplexes Arbeitsfeld, das man mit den Begriffen „Inklusion, Interkulturalität, Immigration“ beschreiben kann: In diesem Dreieck bildet sich die Entwicklung der Musikschule ab. Hier liegen die Herausforderungen, denen sich die Musikschullehrerinnen und -lehrer stellen müssen. Allerdings bleibt in jedem Aktionsfeld der Markenkern der Musikschule gleich: das Verführen zum Musizieren.

Die Aktionen der Musikschule Bochum werden auf der Website www.bochumer-trommeln.de dokumentiert. Dort sind die beiden Hörspiele „Hans im Glück“ und „Karneval der Tiere“ zu hören sowie die Visitenkarten und Fotos aus der Arbeit zu sehen.

Ort
Print-Rubriken
Unterrubrik