Der Monteverdi-Chor Hamburg wurde 1955 in politisch wirren Zeiten auch als ein Instrument der Völkerverständigung zwischen Deutschland und Italien gegründet. Über 40 Jahre wurde er von Jürgen Jürgens (1925–1994), einem herausragenden Vertreter der historischen Aufführungspraxis, geprägt. In diesem Jahr feiert der Chor zwei Jubiläen: Jürgens hätte seinen 100. Geburtstag und der Chor, der in seiner Geschichte insgesamt „nur“ drei Chorleiter hatte, begeht seinen 70. Geburtstag.

Claudio Monteverdis „Marienvesper“ mit dem Monteverdi-Chor Hamburg unter Leitung von Antonius Adamske in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis („Michel“). Foto: Peter Rüssmann
Eine Chorfamilie begeisterter „Claudioten“
Mit dem wenig spektakulären Namen „Chor des italienischen Kulturinstitutes“ hatte 1955 alles begonnen. Aber bald schon einigten sich der damalige Leiter des „Istituto Italiano di Cultura di Amburgo“, Marianello Marianelli, und der Leiter des Chores, Jürgen Jürgens, auf einen klangvolleren und italienisch klingenderen Namen: Monteverdi-Chor. „Montewer?“ mag der eine oder andere gedacht haben, denn der Name und die Werke Claudio Monteverdis waren zu dieser Zeit durchaus noch nicht allgemein verbreitet. Durch die intensive Beschäftigung mit der Musik Monteverdis wurde aus dem Chor sehr schnell ein international gefragtes Ensemble. Gleichzeitig gab Jürgens mit seiner Chorarbeit der historischen Aufführungspraxis wesentliche Impulse.
In diesem Jahr feiert der Monteverdi-Chor sein 70jähriges Bestehen und gleichzeitig den 100. Geburtstag von Jürgen Jürgens. – Das anspruchsvolle Chor-Konzept von Jürgens sprach sich in Hamburg schnell herum und lockte jüngere musikalisch Begabte in den Chor. Jürgens bildete die Sänger aus und schmiedete ein Ensemble, das schon nach einem halben Jahr beim NDR eine erste Aufnahme mit italienischen Madrigalen machte. Bei den Zuhörern herrschte damals ein großer Bedarf an neuen Facetten der Musik. Ein Programm mit Musik aus Renaissance und Barock, das ein Klangideal der glatten und geraden Stimmführung anstrebte – das war etwas Neues!
Gründer und prägende Gestalt: Jürgen Jürgens
Jürgens wurde am 5. Oktober 1925 in Frankfurt am Main geboren. Dort besuchte er unter anderem von 1939 bis zum Notabitur 1944 das „Musische Gymnasium“, wo er Schüler von Kurt Thomas gewesen ist. Unter seinen Mitschülern waren einige Persönlichkeiten, die später eine große künstlerische Karriere aufweisen konnten, etwa der spätere Dirigent Otto-Werner Müller, der spätere Gründer und Leiter des Knabenchores Hannover, Heinz Henning, und der Schauspieler Hans Clarin. Von 1947 bis 1954 studierte Jürgens an der Staatlichen Hochschule für Musik in Freiburg. Zu seinen Lehrern gehörten Konrad Lechner (Dirigieren, Tonsatz) und Margarete von Winterfeldt (Gesang). Bereits während des Studiums gründete Jürgens seinen ersten Chor.
Im Jahr 1955 kam der Frankfurter dann nach Hamburg und wurde für fast 40 Jahre bis zu seinem Tod künstlerischer Leiter des Monteverdi-Chors. Als Jürgens 1961 zum Leiter der Akademischen Musikpflege an der Universität Hamburg berufen wurde, zog der Chor vom Istituto Italiano di Cultura ins Musikwissenschaftliche Institut der Universität und war fortan der Kammerchor der Universität. Weiterhin leitete Jürgens den Universitäts-Chor, das Sinfonie-Orchester der Universität und die von ihm gegründete „Accademica Hamburg“, ein auf historische Aufführungspraxis spezialisiertes Kammerorchester. 1966 wurde Jürgens zum Universitätsmusikdirektor, 1973 zum Professor ernannt.
Auch mit der Herausgabe von Werken des 17., 18. und 19. Jahrhunderts hat sich Jürgens beschäftigt. Dabei gehören seine Ausgaben von Monteverdis Marienvesper, Domenico Scarlattis Stabat Mater und die Erstausgabe von Alessandro Scarlattis Acht Madrigalen zu seinen bedeutendsten. Er hielt musikwissenschaftliche Vorträge und gab Dirigier-Meisterkurse, leitete Chorseminare und war gern gesehener Gast bei deutschen und europäischen Rundfunk- und Amateurchören. Sein wichtigstes Thema aber war dabei oft die historische Aufführungspraxis. Neben seiner musikalischen Passion hegte er zeitlebens literarische Ambitionen. Chormitglieder erinnern sich gern an seinen Wortwitz und seine Vorliebe für Schüttelreime: „Es klingt die Terz stets, als ob der Sterz tät’s“.
Das Arbeitsprogramm des Monteverdi-Chores war beachtlich. Im ersten Jahr gab es fünf Konzerte beziehungsweise Rundfunkaufnahmen. Zehn Jahre später waren es 28 Auftritte und im Jahr 1975 zählte man 19 Termine, darunter vier Konzertreisen. – Lohn gab es für dieses Pensum wenig. Jürgens erhielt 1985 die Senator-Biermann-Medaille und 1991 die Johannes-Brahms-Medaille des Hamburger Senates. Die Chorsänger (sie nennen sich selbst ironisch die „Claudioten“) waren dankbar dafür, dass sie diese großartige Musik mitsingen durften, „immer wieder mit Gänsehaut-Momenten in den Konzerten“, wie ein Chorsänger betont. Es waren die Konzertreisen, die Begegnung mit herausragenden Musikern und die Möglichkeiten der eigenen musikalischen Weiterentwicklung, die aus ihnen ein Ganzes geformt haben, eine Familie mit Jürgens als gütigem Familien-Oberhaupt und für viele musikalischer Ziehvater. Allein in den ersten 40 Jahren des Chores wurden 38 reine Chor-Ehen geschlossen.
Die politische Dimension der Chorgründung
In ihrem Festvortrag wies die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold, die einst selbst im Monteverdi-Chor gesungen hat, auch auf die politische Dimension der Chorgründung hin: Marianelli wollte „nur wenige Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges den Wiederaufbau in Deutschland nicht nur materiell, sondern auch ideell und vor allem kulturell mitgestalten.“ Er wollte an der „Neugestaltung jener […] immer wieder gefährdeten und überaus wechselvollen Beziehung zwischen Italien und Deutschland, die seit mindestens einem Jahrtausend bestand und der im Tausendjährigen Reich eine für beide Seiten beschämende Komponente hinzugefügt worden war“, mitwirken. Die überaus komplexe politische Landschaft im Jahr 1955 bot für diese auch versöhnliche Chorgründung einen günstigen Boden, einen Boden, den es jenseits der üblichen Chormusik und mittels der italienischen Sprache zu beackern galt.
Nach dem Tod von Jürgens konnte man den Dresdner Kreuzkantor Gothart Stier gewinnen, die Leitung des Chores zu übernehmen. In seine Zeit fällt eine Hinwendung zur romantischen Chormusik. „Besonders auffällig“, so ein Sänger, „war wohl seine Strenge und seine tiefe Verwurzelung in der protestantischen Ethik; in der Bedeutung des Wortes“. Stier wohnte der Gedanke inne, dass die Zuhörer erst durch das Verständnis des Wortes den Inhalt vollumfänglich verstehen konnten. In die Zeit von Stier fällt auch ein wachsender Chortourismus mit Mitsängern, die aus der ganzen Republik zu den Proben am Wochenende angereist kamen. Stier blieb bis zu seiner Pensionierung 2018 Leiter des Chores. Seitdem setzt der äußerst akribische und musikwissenschaftlich hochversierte Antonius Adamske, Spezialist für Alte Musik, die Arbeit mit einem breit gefächerten Programm fort. Immerhin 90 Prozent der Chorsänger haben ihn zum neuen Leiter des Chores gewählt. Es gibt aber nicht nur Alte Musik – im Jubeljahr kann man unter anderem Franz Schuberts „Winterreise“ in einer Bearbeitung für Bariton, Chor und Klavier hören und Monteverdis „L’Orfeo“ im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth.
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