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Dirigent Herbert Blomstedt: Beim Musizieren bin ich nie einsam

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Dresden - Dirigent Herbert Blomstedt rät jungen Kollegen zu einer behutsamen Karriereplanung: «Wer wirklich gescheit ist, macht es so wie Simon Rattle und sagt: Ich warte noch, ich habe Zeit, ich bin noch nicht fertig.» Unlängst gastierte der 87-Jährige bei seinem früheren Orchester - der Staatskapelle Dresden. Im Interview der Nachrichtenagentur dpa spricht Blomstedt über die Kraft der Musik und den individuellen Klang von Orchestern in Zeiten der Globalisierung.

Interview: Jörg Schurig, dpa

 

Frage: Sie stehen mit 87 Jahren noch am Pult. Ist Musik ein Lebenselixier?

Antwort: Ja. Sie ist ein starkes Erlebnis sowohl intellektuell als auch emotional. Das ist ein ähnlicher Zustand wie Ekstase. Man wird umso sensibler, je mehr man in die Musik eindringt. Man kann sie ja auch beiläufig hören. Millionen Menschen hören sie als Hintergrund, auch gute und anspruchsvolle Musik. Zum Beispiel wenn sie ihre Wohnung sauber machen oder bei anderen Tätigkeiten. Aber da hört man eigentlich nicht so richtig, was in der Musik los ist. Musik muss einen so fesseln, dass man auch die Spannung zwischen zwei Intervallen als etwas Starkes empfindet.

Frage: Ändert sich dieses Gefühl mit zunehmendem Alter?

Antwort: Es nimmt mit zunehmender Erfahrung zu. Wenn man jung ist oder Dinge zum ersten Mal hört, sind meist Äußerlichkeiten das Entscheidende, die Virtuosität oder eine besonders schöne Melodie. Aber was in einem sinfonischen Drama los ist, merkt man erst, wenn man mehr Erfahrung hat. Der Alltag ist oft sehr grau. Dann ist Musik wie eine Offenbarung. Selbst als alter Hase entdecke ich immer wieder neue Sachen. Das hält einen frisch. Vielleicht wird man mit dem Alter auch etwas sentimental. Was ich früher nur als schön empfand, das bewegt und erschüttert mich jetzt.

Frage: Wie hat sich das Berufsbild des Dirigenten im Laufe der Zeit verändert?

Antwort: Die Voraussetzungen sind heute andere. Ich kann bei mir selbst einen Reifungsprozess beobachten, der sehr langsam verlief. Einige junge Dirigenten machen heute eine schnelle, sprunghafte Karriere. Das war in meiner Generation nicht üblich. Wir haben mit D-Orchestern angefangen und vielleicht nach zehn Jahren C-Orchester übernommen. Heute hat ein Mann wie Gustavo Dudamel einen spektakulären Start - und ein Jahr später dirigiert er die besten Orchester der Welt. Das war in meiner Generation kaum möglich.

Frage: Ist das eine gute Entwicklung?

Antwort: Das ist ein zweischneidige Entwicklung. Für die jungen Dirigenten ist das gut, weil sie schnell zu einem hohen Niveau kommen. Sie hören, was möglich ist mit den besten Orchestern der Welt. Es ist aber auch eine Gefahr, dass sie sich nicht natürlich entwickeln können. Nicht alle können mit Erfolg gleich gut umgehen. Nicht alle nehmen sich für die eigene Reife Zeit. Sie bekommen eine Chance und wollen dann alles machen. Das ist vielleicht nicht sehr günstig für die langfristige Entwicklung - für den unmittelbaren Erfolg aber auf jeden Fall. Wer weiß, ob man in einem Jahr noch einmal von einem großen Orchester eingeladen wird.

Frage: Kann der rasche Erfolg zum Fallstrick werden?

Antwort: Wer wirklich gescheit ist, macht es so wie Simon Rattle und sagt: Ich warte noch, ich habe Zeit, ich bin noch nicht fertig. Elias Canetti hat einmal den Erfolg als Rattengift der Menschen bezeichnet. Nur wenige überleben dieses Rattengift. Je größer der Erfolg ist, desto schwieriger wird das. Die Leute glauben, etwas zu sein und alles zu können. Und dann arbeiten sie nicht mehr so genau. Das ist riskant. Ein bisschen Erfolg muss man haben, sonst geht man zugrunde. Aber wenn man schnell zu viel Erfolg hat, wird es gefährlich.

Frage: Welchen Rat geben Sie jungen Dirigenten?

Antwort: Jeder muss seine Karriere machen wie er kann. Das hängt auch vom Charakter und Talent ab. Man kann nicht generell sagen: Sag' nein zu guten Angeboten und studiere lieber. Es ist sicher nützlich, wenn Dirigenten an kleine Häusern anfangen und erst einmal alles machen müssen. Ich bin diesen Theaterweg nicht gegangen. Ich habe das erste Mal Oper dirigiert, als ich nach Dresden kam. Das war eine Herausforderung für mich. Es wurde eine sehr gute Zeit. Ich habe in Dresden viel gelernt. Das war ein Scheideweg in meiner Karriere.

Frage: Ändert sich das Verhältnis, wenn man selbst nicht mehr Chef ist?

Antwort: Anfangs war ich schon zufrieden, wenn man mich respektierte.

Je älter ich wurde, desto mehr interessierte ich mich mehr für den Menschen hinter dem Instrument. Wenn man keine Chef-Position mehr hat, ist das leichter. Ein Chef ist ja immer auch eine Machtperson. Das habe ich nie gerne ausgeübt. Als Chef muss man manchmal Entscheidungen treffen, die unpopulär, aber notwendig sind. Das hat mir immer furchtbar weh getan. Jetzt habe ich diese Verantwortung nicht mehr.

Frage: Heißt das auch, dass man mit zunehmendem Alter milder wird?

Antwort: Vielleicht. Ich war wohl immer ziemlich milde. Ich bin gut erzogen und behandle Menschen nicht brüsk. Das Autoritäre liegt mir nicht, ich hasse es. Wenn ich das bei Kollegen sehe, werde ich böse. So kann man Menschen nicht behandeln. Es gibt aber Typen, die nur selbstherrlich sind und sich nicht kontrollieren können. Das ist abscheulich.

Frage: Ist die Zeit der Patriarchen am Pult vorbei?

Antwort: Ich glaube ja. Vor 100 Jahren war der Dirigent mehr oder weniger ein Halbgott. Der hatte völlige Macht. Das Orchester war auch nicht so durchorganisiert wie heute. Heute macht ein Orchesterbüro eine detaillierte Vorplanung. Da gibt es für jede Probe einen Plan, das war damals nicht so. Da kam der Chef und sagte: Wir spielen jetzt das. Der Dirigent hat alle Konzerte gemacht, er konnte machen, was er wollte. Das war nicht gut so. Gastdirigenten gab es fast nicht.

Frage: Jeder kann sich heute weltweit für Orchesterstellen bewerben. Geht in Zeiten der Globalisierung der individuelle Klang verloren?

Antwort: Das ist eine Gefahr. Man kann diese Entwicklung nicht stoppen. Der oder die Beste muss die Stelle bekommen. Aber die Auswahlgremien müssen auch im Blick haben, was die beste Lösung für das Orchester ist. Es geht nicht darum, wer am schnellsten spielt. Es geht um die Persönlichkeit, die das Orchester benötigt. Es gibt Orchester, deren Musiker aus 25 Nationen stammen. Da ist es nicht so leicht, die Einheit zu bewahren. Das ist die Aufgabe eines Chefs. Er darf aber nicht nur drei Jahre bleiben, sondern mindestens zehn. Wenn er zu lange bleibt, ist es auch gefährlich. Dirigent und Orchester brauchen eine Vision, was sie gemeinsam erreichen wollen.

Frage: Gibt es für Sie bei Ihren Orchestern ein Ranking?

Antwort: Rankings sind eine Erfindung von Journalisten. Es gibt einige Orchester, die sehr gut sind und besondere Qualitäten haben. An bestimmten Abenden hat man das Gefühl: Das war unerreichbar. Aber schon die Woche darauf spielt man mit einem anderen Orchester und es ist genauso. In bestimmten Situationen im Leben muss man wählen - zum Beispiel die eigene Frau. Man kann nicht die zehn besten Frauen haben. Dann aber muss man für die Auserwählte auch alles machen.

Frage: Empfinden Sie als Dirigent das Orchester wie eine Familie?

Antwort: Als Künstler ist man oft einsam, weil man seinen eigenen Idealen folgen möchte. Wenn man Menschen trifft, die dasselbe empfinden, hat man sofort Kontakt. Ich bin ein sehr religiöser Mensch. In meiner Gemeinde teilt man meine Ehrfurcht vor Gott, aber nicht unbedingt meine Liebe zur Musik. Meine Musiker teilen mit mir diese Musikliebe. Wir streben nach demselben Ziel. Beim Musizieren offenbaren die Musiker ihr Herz. Das bewegt mich sehr. In diesem Moment bin ich nicht mehr allein. Das ist ein Segen.

Frage: Haben Sie sich eine Altersgrenze für das Dirigieren gesetzt?

Antwort: Ich habe mir keine Grenze gesetzt, aber irgendwann kann man nicht mehr. So ist das Leben. Wenn ich nicht mehr gut hören kann, dann macht das wenig Sinn. Da kann man nicht mehr koordinieren. Oder wenn ich ein physisches Gebrechen habe und ich mich nicht gut fühle. Das kann alles passieren. Solange das Orchester Freude hat, mit mir zu musizieren, werde ich das machen. Ich möchte nicht irgendwann das Gefühl haben, dass die Freude nur auf meiner Seite ist.

 

ZUR PERSON: Herbert Blomstedt gehört zu den führenden Dirigenten seiner Generation. Noch zu DDR-Zeiten leitete er die Staatskapelle Dresden, nach der Wende wurde er unter anderen Chef des Leipziger Gewandhauses und des San Francisco Symphony Orchestra. 

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