Was ist aus der Verlags- und Druckstadt Leipzig geworden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1.500 Firmen des Buchhandels und der Buchherstellung beherbergte? Im II. Weltkrieg wurde die graphische Industrie zum Angriffsziel der alliierten Luftwaffe, nicht zuletzt auch, um die Durchhaltepropaganda zu lähmen. Dabei waren bedeutende Verlage bereits nach 1933 längst ins Exil vertrieben worden, Leipzig nannte sich zwar ab 1934 „Reichsmessestadt“, doch ohne den Zusatz „Buch“. Im September 1943 verbrannten in einer Bombennacht in kürzester Zeit über 50 Millionen Bücher, 11.500 Tonnen Bomben wurden insgesamt auf Leipzig abgeworfen, die meisten der in der Ostvorstadt angesiedelten Betriebe des „graphischen Viertels“ wurden zerstört. Abziehende Besatzungstruppen nahmen im Zuge des „Brain Drain“ die Führungsriege der Verleger mit in den Westen, bis 1951 entgingen 364 Verlage so einer drohenden Enteignung. Als dann im Oktober 1989 von Leipzig die „Wende“ ausging, sollte eine neue Welle der Zerstörung einsetzen, nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wurde nun innerhalb von fünf Jahren das vollendet, was alliierte Bomben und SED-Herrschaft übriggelassen hatten.

Theo Geißler (ConBrio Verlagsgesellschaft) mit (von li.) Stefan Roszak (Bechstein Stiftung), Maja Jessen und Lorenz Kellhuber (beide Hochschule für Musik Dresden) auf dem Podium „Musik Café“. Foto: Susanne van Loon
Lesegemeinschaften, Hörgemeinschaften
Wenn heute die Buchmesse ihre Türen öffnet, sollten diese Erinnerungsmarken mitschwingen. Sie lenken den Blick auf eine Welt, in der weiterhin abweichende Stimmen unterdrückt, Meinungsfreiheit und künstlerischer Ausdruck zensiert werden: Mitten in Europa tobt ein brutaler, menschenverachtender Krieg; die USA sind unter einem Präsidenten Donald Trump nicht mehr unser „großer Bruder“; viele haben Angst, dass hier Diskriminierung wieder gesellschaftsfähig wird. Der Auszug des Geistes setzt in den USA bereits ein: Entlassungen und der Widerruf von Forschungsprogrammen zur Durchsetzung politischer Ziele führen bereits dazu, dass Forschende das Land verlassen. Schon lange macht sich solch eine exkludierende Solidarität auch bei unseren europäischen Verwandten breit. Auch in Deutschland werden antidemokratische und rassistische Ressentiments befeuert, Krisensituationen verdreht und instrumentalisiert.
Zur Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus am Mittwochabend hielt der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič dann seine Dankesrede für den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“, um über das zu reden, was unserer Demokratie droht: Er sprach über die Freiheit der Kunst und von seinem Land, in dem man von der Freiheit nur träumen darf, über die Macht der Literatur, über ein Regime, das ihn verfolgt, seine Bücher verbrannt hat: „Wahre Literatur spricht über Sprache ‒ und über Zeit. (…) Märchen verleihen dem Schmerz Sinn. Märchen leben lange. Nachrichten nur eine Stunde.“ Gerade in bedrängten Zeiten wird die prägende Rolle der Kunst deutlich. Es geht um mehr als um eine kulturelle Identität oder ein Selbstverständnis. In der Kunst liegt unsere Kraft – und in ihr spiegelt sich unsere Kraft. Märchen leben lang, sie können ein politisches Regime überdauern: „In der Kraft der Kunst geht es um unsere Freiheit“ (Andreas Menke).
Lesen scheint wieder in zu sein, nahezu 300.000 Besucher spülten sich durch das Messetor, begaben sich in den Trubel der unzähligen Veranstaltungen, in Stoßzeiten fuhr die Linie 16 im Minutentakt, der öffentliche Nahverkehr stieß an seine Grenzen. Startpunkt der Prozession war für die meisten bereits der Leipziger Hauptbahnhof, hier begann die „kollektive Gebärde einer Kultgemeinde“, wie der Germanist Wolfgang Brückner diese Kulturtechnik beschreiben würde, wenn im Weg bereits das erste Ziel ausgemacht wird. Können so intime Räume der Begegnung zwischen den Lesenden und ihren Büchern entstehen, kann eine Buchmesse für unsere poetische Grundversorgung sorgen oder gleicht ihr Besuch dann doch unseren alltäglichen Speeddating-Gewohnheiten des flüchtigen Zappens und Chattens? Achtsam sollten wir mit Kunst, mit Literatur, umgehen, damit sie nicht zur Ware wird, sich selbst zum gesellschaftlichen Beiprogramm degradiert und während der mehr als 3.000 Veranstaltungen die ihr soeben zugesprochene Kraft verliert. „Märchen leben lange“, doch auch das geschriebene Wort kann zur bloßen Nachricht werden, wenn es im bunten Treiben einer Masse untergeht.
Und doch brauchen wir solch eine Messe als große Lesegemeinschaft: Wenn auch die alljährlich stattfindende Wallfahrt in die Messehallen allein uns eine verlorene Kultur sicher nicht zurückbringen kann, so suchen wir solche Orte, um uns in den eigenen Werten zu stärken. Wenn während der Buchmesse eine ganze Stadt zur großen Lesebühne mutiert, wird Literatur in einer besonderen Weise lebendig, und es vermittelt sich hier eine Idee davon, was zu tun wäre, damit unsere kognitiven Kapazitäten nicht gänzlich von den digitalen Lebensbegleitern absorbiert werden. Dann erleben wir, wie durch vielfältige Aktivitäten rund um die Kultur des Lesens aus einer „Buchmesse-Stadt“ wieder eine ‚Stadt des Buches‘ werden kann. Schließlich gehört es für Ludwig Wittgenstein zum Lesen dazu, dass man hier immer eine Stimme mithört: Wenn „Leipzig liest“, wird dieses in ganz besonderer Weise erfahrbar.
Schwerpunkt Musikpädagogik
„Worte bewegen Welten“, lautete das Motto der diesjährigen Buchmesse. Wir brauchen Worte, Literatur, um mit den uns umgebenden Realitäten umzugehen, unsere Welt zu einer besseren zu machen, um uns den Mut zu schenken, von einer besseren Welt zu träumen. Könnte es einen geeigneteren Rahmen geben, um sich vor dem hier beschriebenen Hintergrund über die höchste aller Künste auszutauschen? In Musik konstituiert sich in besonderer Weise das Aufeinanderhören als ein Zueinandergehören, wenn die Schwelle zum Inneren übertreten wird: „Musik bewegt Menschen“, war daher das Motto für den „Tag des Musikunterrichts“, den der Bundesverband Musikunterricht (BMU) alljährlich in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse ausrichtet. Dass Workshopangebote hier auf neue Verlagsprodukte verweisen, gehört zum Wesen einer solchen Besuchermesse. Musik bewegt Menschen, mit diesem Motto kommt zunächst einmal zur Sprache, dass das Hören immer Ausgangspunkt einer inneren Bewegung ist. Darum ist für Hegel das Hören auch der geistigere Sinn gegenüber dem Sehen: Die Ohren haben feine Antennen, im Hören spüren wir den Übergang ins Geistige, wir hören Musik, auch wenn Worte uns nicht mehr erreichen. Musik bewegt Menschen allein deshalb, weil wir nichts anderes tun können, als uns ihr zu öffnen. Wir können wegsehen, die Augen verschließen, unsere Ohren haben jedoch keine Ohrenlider. Die in Zusammenarbet zwischen der neuen musikzeitung‘ und dem BMU verantworteten Gesprächsrunden im „Musik-Café“ trafen auf ein breites Publikum, hier wurde die Auseinandersetzung mit Musik und Musikunterricht zum Ort des Politischen: Welchen Beitrag kann vor dem hier beschriebenen Hintergrund der Musikunterricht zur Demokratiebildung leisten? Dieser Frage widmeten sich Dorothee Barth (Universität Osnabrück) und Jürgen Oberschmidt (BMU), moderiert von Antje Valentin (DMR), die darauf hinwies, dass der Deutsche Musikrat die Stimme zum Instrument des Jahres und das Thema „Musik und Demokratie“ zum Jahresthema 2025 erkoren hat. Dabei ist Musik eine existenzielle Säule der Demokratie, wenn man sich hier aufgeschlossen zeigt gegenüber kultureller Diversität und die Vielstimmigkeit unterschiedlicher Praxen im Musikunterricht auch zu Wort kommen lässt. Dorothee Barth zeigte auf, dass Musik immer wieder auch für antidemokratische Handlungen missbraucht wurde und nach wie vor wird: Auch böse Menschen haben schließlich ihre Lieder. Allzu oft verschiebt sich ein Verhältnis von Hören und Antworten in das von Befehlen und Gehorchen. Nicht zuletzt sind Gehorsam und Gehorchen Teil einer leidvollen Gehörbildung, die es kritisch zu hinterfragen gilt, wenn sie sich zur alleinigen Leitidee unseres gesellschaftlichen Miteinanders aufschwingt, wie sie manchmal auch im Musizieren ihren Niederschlag findet.
Das Problem „Brain Drain“
Auch was den Musikunterricht selbst betrifft, hat längst ein „Brain Drain“ eingesetzt, wenn man die Marginalisierung der Musik an den Schulen und in der Kulturpolitik betrachtet. Wie gewinnen wir junge Menschen für musikpädagogische Berufe?, war daher die Ausgangsfrage, mit der sich Antje Valentin (DMR), Jürgen Oberschmidt (BMU) und Kristin Haas (VdM, Musikschule des Landkreises Meißen) auseinandersetzten. Musikunterricht bildet den unverzichtbaren Nährstoff für musikalische Bildung, für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Um dies zu stützen, hilft hier manchmal auch ein Blick in den Musikunterricht unserer Nachbarländer: Christopher Wallbaum (Hochschule für Musik und Theater Leipzig) zeichnete im Gespräch mit Andreas Kolb (nmz) kulturelle, pädagogische und auch kulturpolitische Unterschiede nach, um damit zugleich gemeinsame Anliegen aufzuzeigen.
Wir wissen auch um den Beitrag der Musik für eine inklusive Gesellschaft, wie dies im Café-Gespräch von Andreas Kolb und Michael Fritsch (VdM) nachhaltig zum Ausdruck kam. Dass diese Botschaften bei jenen nicht immer ankommen, die sich die Ohren mit Wachs verstopfen, weil gerade politische Entscheidungsträger Ohren haben, die unempfindlich sind für die Kraft der Musik und den Zauber der Sirenen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter den Gästen hier große Einigkeit herrschte. Die Musikstadt Leipzig ist eben ein Ort, an dem das kulturelle Erbe nicht nur behütet wird, sondern das ganze Jahr über lebendig ist und überall zu spüren ist: auf der Straße, in Kirchen und Konzertsälen, in Schlössern, Klöstern und Museen, an den authentischen Wirkungsstätten der Größen unserer Musikgeschichte und eben auch auf der Buchmesse.
Eine Metastudie, durchgeführt von Forschenden der Universität Augsburg unter der Leitung von Klaus Zierer, bestätigt den Brain-Drain-Effekt einer anderen Art, die Abwanderung der Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistung wird hier durch das Ablenkungspotenzial des Smartphones verursacht. Wie geht eine veränderte Medienlandschaft mit den Risiken und Nebenwirkungen, aber auch mit den großen Potenzialen digitaler Medien um, wenn Unterricht flexibler gestaltet und stärker differenziert werden kann? Ist das Schulbuch im Musikunterricht hier noch zeitgemäß? All dies waren Fragen, die Georg Biegholdt (BMU) im Gespräch mit Schulbuchautor Gero Schmidt-Oberländer und Katharina Meyer aus der Perspektive eines Schulbuchverlages diskutierte. Durch Zuwanderung neuer Technologien sollte hier eher von einem Brain Gain gesprochen werden, ist es doch für alle ein Gewinn, wenn die Trennung zwischen digitalen Medien und dem Leitmedium Schulbuch aufgehoben wird.
Die Lust am aktiven Musizieren bleibt ohnehin immer lebendig: Das Klavier lebt als Alleskönner und authentischer Mittler analoger Soundqualitäten, als Experimentierwerkzeug und Demonstrationsmittel ist es das schulpraktische Klavierspiel, das von einem interdisziplinären Dialog lebt. Dass Theo Geißler (ConBrio-Verlagsgesellschaft), Stefan Roszak (Bechstein Stiftung) und Lorenz Kellhuber (Hochschule für Musik Dresden) sich in der Sache einig zeigten, darf wenig verwundern, wenn hier zugleich musikalisch dargestellt wurde, wie Musik im wahrsten Sinne des Wortes klingend zu „begreifen“ ist. Musik verleiht Flügel! Das gilt nicht nur für jene, die sich auf künstlerisch hohem Niveau diesem angewandten Klavierspiel widmen, sondern auch für die Schülerinnen und Schüler von Christiane Hein (BMU-Sachsen), die dem Aufruf der Initiative kulturelle Integration gefolgt waren, sich im Gedenken an den 5. Jahrestag des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau am Song-Wettbewerb Ohren auf für Hanau zu beteiligen.
Barbara Haack (Deutscher Kulturrat) begleitete durch ein Gespräch, in dem es zu berichten galt, was es heißt, aus dem Musikunterricht heraus ein Bandinstrument zu erlernen, gemeinsam mit anderen zu musizieren, erste Erfahrungen in der eigenen Band zu sammeln, eigene Songs zu entwickeln, bevor dann der Mut gefasst wurde, sich mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen. Wer auf diese Weise in der Auseinandersetzung mit Kunst seine eigene Stimme findet, verschließt nicht die Augen vor Leid und Ungerechtigkeit in dieser Welt.
Worte bewegen Welten – Musik bewegt Menschen. Überall sprechen wir von massiven Kürzungen der Kulturetats, ausfallendem Musikunterricht, von Einschränkungen und den schlechten Vorzeichen mit Blick auf eine ungewisse Zukunft – und wenn die Buchmesse im nächsten Jahr wieder ihre Türen öffnet, wird sich unsere Welt weiter verändert haben. Doch gibt man der Musik in den Schulen ihren Raum, kann hier von einem Auszug des Geistes nicht geredet werden. Dann wird es weiter gelingen, die Welt zum Klingen und Singen zu bringen. Ein Dank gilt allen, die in ihren verschiedensten Funktionen diese Arbeit unterstützen. Sie alle tragen Sorge dafür, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
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