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„Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben – und erfindet: seht das Grün und hört das Dröhnen, und verwandelt eure unwillkürlichen Seufzer in mächtige Lieder.“ Aus: „Über die Dörfer“ von Peter Handke. Foto: Susanne van Loon

„Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben – und erfindet: seht das Grün und hört das Dröhnen, und verwandelt eure unwillkürlichen Seufzer in mächtige Lieder.“ Aus: „Über die Dörfer“ von Peter Handke. Foto: Susanne van Loon

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„Verwandelt eure Seufzer in mächtige Lieder“

Untertitel
Warum wir Musik brauchen, um unser Leben zu gestalten · Von Jürgen Oberschmidt
Vorspann / Teaser

„Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben – und erfindet: seht das Grün und hört das Dröhnen, und verwandelt eure unwillkürlichen Seufzer in mächtige Lieder.“ Dieser Aufruf von Peter Handke aus seinem Essay „Über die Dörfer“ soll hier zum Anlass genommen werden, auszufalten, was es bedeuten kann, aus dem Alltag herauszutreten, um in der Kunst, in der Musik, innezuhalten. Dabei gilt es, sich aus der Hatz des Alltags zu lösen, zu musizieren, über Musik ins Gespräch zu kommen, zu reflektieren und dabei die Welt und sich selbst ein stückweit neu zu entdecken. All dies bedeutet, nachzudenken über das Leben, das wir führen, und darüber, welchen Raum wir in diesem unseren Leben der Kunst als ein Rettungsmittel gegen die Übereilungen der Moderne zuweisen möchten.

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Wir können diesen Ausruf von Peter Handke aber auch als Aufforderung verstehen, den die Kunst direkt an uns richtet: „Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben – und erfindet.“ Dann steckt in diesem Satz genau jenes Dazwischen, das uns bedeuten möchte, es gäbe im Konzert keine Barriere mehr zwischen einem passiven Hören und dem aktiven Musizieren, zwischen taktgebenden Anweisungen und den Reproduktionsmechanismen in Chor und Orchester. Es gibt dann in der Kunst auch keine Unterscheidung mehr zwischen oben und unten, Ohnmacht und Herrschaft, die wir meinen zu spüren, wenn wir nach einem Konzert wieder durch die Tür zurück in unseren Alltag treten. „Bewegt euch – damit ihr langsam sein könnt: Die Langsamkeit ist das Geheimnis, und die Erde ist manchmal etwas sehr Leichtes: ein Schweben, ein Ziehen, ein gewichtloses Bild, ein Sinnreich, ein Eigenlicht – übernehmt dieses Bild für euer Weitergehen.“

Wie können wir die Musik als solch ein „Sinnreich“ und „Eigenlicht“ in unser „Weitergehen“ übernehmen, solange unser alltägliches Denken vorwiegend einer zweckrationalen Vernunft folgt und wir in unserem Leben kaum mehr einen Raum für emotionale Erfahrungen finden? Möchte die Musik uns lediglich daran erinnern, wenn wir uns temporär in ‚ihrer‘ und damit in einer anderen Welt bewegen, wo wir uns dann nicht mehr einzwängen lassen müssen in fremdbestimmte Strukturen der uns einhegenden Planquadrate? Oder fühlen wir uns ungebrochen getrieben von Beschleunigungsimperativen und vom Optimierungsdruck, wie er schon in der Musik selbst steckt und auch ins Musizieren als einen Teil unseres ohnehin straff durchorganisierten und für ‚normal‘ befundenen Freizeitverhaltens hineinwirkt? Auch darum haben viele von uns es verlernt, die unwillkürlichen Seufzer in mächtige Lieder zu verwandeln. Sollte es uns wirklich gelingen, den einem Rilke-Gedicht entlehnten Aufruf von Peter Slo­terdijk anzunehmen? „Du mußt dein Leben ändern“, heißt es hier, was wiederum bedeuten würde, dass all das, was wir in der Musik und durch das Musizieren erfahren, in unser Leben hineinwirken sollte. Wenn Martin Heidegger in den 1930er-Jahren doziert hat, die Kunst stelle eine Welt auf, dann müssen wir heute konstatieren, dass unser Musikleben an vielen Stellen abgeschnitten ist von dem, was außerhalb dieser eigenen Sphäre liegt. Der von Bourdieu beschriebene bildungsbürgerliche Habitus spiegelt sich selbst im Musikunterricht, der sich zwar an alle richtet, die Merkmale des Elitären und Auserwählten aber weiterhin vor sich herträgt, ohne sich um die Breite der musikalischen Praxen zu bemühen, die junge Menschen durch ihr Leben begleiten. Ausbildungskuratoren der Schulverwaltungen sorgen für selbstbezügliche Prüfungsformate, die eher einen umgekehrten Weg gehen, um im schulischen Lerngetriebe die „mächtigen Lieder“ in „unwillkürliche Seufzer“ zu verwandeln. Damit hat der Musikunterricht sich selbst genau das genommen, was man einmal für sein Bestes hielt, nämlich die Möglichkeit, sich mit Hilfe der Farben zu verlangsamen, innezuhalten, um das hastige Kompetenzgetriebe des schulischen Alltags hinter sich zu lassen.

Anpassen, ­optimieren unterwerfen

Anpassung und Unterwerfung scheinen fest in unseren Körper eingeschrieben, sind wir doch geneigt, das Schnelle mit dem Mehr zu verknüpfen und unsere inneren Bedürfnisse wegzudrücken. Dass Musik hier dazu beitragen kann, ein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, scheint auf den ersten Blick eine grundlegende Bestimmung allen Musizierens zu sein. Aber stehen wir nicht auch im Musizieren in ständigem Konkurrenzdruck? Ist eine gelungene Musikdarbietung nicht das Ergebnis von Anpassungsleistungen? Und an welche musikalischen Praxen denken wir, welche schließen wir aus, wenn es so etwas zu behaupten und zu verallgemeinern gilt? Wie etwa gestalten sich die Prozesse der Entschleunigung in popularmusikalischen Praxen, wenn es hier weniger um Anpassung an einen heiligen Urtext geht als um das eigene Erfinden, wenn in partizipativen Prozessen die „Seufzer“ sich in ein „Dröhnen“, in „mächtige Lieder“ verwandeln?

Will man Peter Handkes Aufforderung „Bewege dich in deinen Eigenfarben“ nachkommen und soll es dabei gelingen, Erlebnisse und Erfahrungen, die Musik uns zu schenken vermag, nicht nur in den Alltag zu tragen, sondern diesen auch mit Hilfe der Musik neu zu „erfinden“, dann gilt es, über das Spektrum der Farben nachzudenken.

Beschleunigungsimperative

In seinem Aufsatz „Neue Tempi“ schreibt Adorno 1930, „daß die Werke im Lauf der Zeit stets rascher gespielt werden müssen“. Adorno sieht die Ursachen nicht in der Musik allein, sondern in Verschiebungen begründet, die außer ihr liegen: „Die Werke schrumpfen in der Zeit ein, die Vielfalt des darin Seienden rückt zusammen.“ Die „Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne“, wie sie der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Beschleunigung“ beschrieben hat, drängt sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts in die Musikästhetik ein, die nun neu bestimmen möchte, wie wir Musik hören und wie sie in unser Leben zu treten hat. Nicht nur die Produktion, auch die Rezeption der Musik hat sich aufgrund neuartiger Medientechniken radikal verändert: Im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit wird Musik technisiert, mechanisiert, sie wird global verfügbar. In der Retrospektive reagiert Adorno hier rational und nüchtern auf das längst geäußerte subjektive Befinden der Musikkritik, Musik würde zu ihrem Leidwesen immer schneller interpretiert. Wenn Adorno nun argumentiert, Musik müsse beschleunigt werden, um sie lebendig zu halten, dann trifft dies zudem noch auf sein Theorem vom Fortschritt des musikalischen Materials, wie er sich in der Erweiterung der Tonalität, der Vergrößerung des Klangspektrums und nicht zuletzt in der Entwicklung hin zur elektronischen Musik ablesen ließe.

Für Adorno wird also nicht die Musik technisiert, weil nun neue Apparaturen zur Verfügung stünden, sondern diese werden zu neuen musikalischen Darstellungsmitteln und damit in einer Art und Weise durchmusikalisiert, wie wir es aktuell auch in den digitalen Transformationsprozessen, hin zu einer Musik der ‚Dinge‘, erleben.

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Unter dem Zeichen der Beschleunigung: Seit 1815 zwängt Maelzels Metronom die Musik ins Tempokorsett. Foto: JM Koch

Unter dem Zeichen der Beschleunigung: Seit 1815 zwängt Maelzels Metronom die Musik ins Tempokorsett. Foto: JM Koch

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Der Fortschritt, wie er unser Leben längst bestimmt, ist damit auch in die Bewegungsformen unserer Hochkultur eingetreten, was Grete Wehmeyer in ihrem umstrittenen Buch „Prestißißimo“ von 1989 vom „Gebot der Raserei“ sprechen ließ. Wie können wir uns dann noch in den Farben der Kunst verlangsamen, wenn die Musik längst unser beschleunigtes Lebenstempo angenommen hat?

Ohne Tempolimit

Die Temporalstruktur unserer Gesellschaft steht also nicht erst seit heute unter dem Zeichen der Beschleunigung. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird deutlich, wie sich musikästhetische Vorstellungen, technische und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen unter ein kultur- und handlungsorientierendes Sinnganzes stellen, das uns mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts noch zu beschäftigen hat, wo wir doch längst zu spüren bekommen haben, wie die Vielfalt alles Seienden in ganz anderen Dimensionen zusammenrückt: Der Informationsfluss, dem wir uns täglich aussetzen, führt dazu, dass uns Texte nur noch im Schnelldurchlauf erreichen, mit den uns angelieferten Zusammenfassungen künstlicher Intelligenzen werden wir zu Überfliegern, ohne die Dinge in ihrer Tiefe zu durchdringen. Weil das längst auch für den Musikbereich gilt, sind wir nun endgültig eingetreten in einen Weg des gedächtnislosen Fortschritts, der uns in die bereits 1955 von Thomas Mann vorausgesehene „Nacht der Unbildung und Erinnerungslosigkeit“ geführt hat: Der Augenblick, gefüllt mit Insta-Reels und You-Tube-Shorts, führt zu einem ständigen Dopaminschub, unsere noch vorhandene Aufmerksamkeitsspanne hat sich auf die Informations- und Unterhaltungsexplosion der modernen Walpurgisnächte eingestellt, Algorithmen sorgen dafür, dass unsere Playlist sich immer am Gewohnten orientiert, alle neuen Statusmeldungen teilen wir in Echtzeit mit unserem sozialen Umfeld, das wir immer ‚zur Hand‘ haben oder gar direkt am Handgelenk tragen. So verdichtet sich Kommunikation, verringert sich unsere Zeit, während die uns umgebende Technik sich exponentiell beschleunigt.

Leben im ­veloziferischen Zeitalter

Johann Wolfgang v. Goethe spricht von einem „veloziferischen“ Zeitalter und beschreibt mit seinem Kunstwort, das Eile (velocitas) mit dem Luziferischen verknüpft, genau jene Zeit, die er in vorausdenkender Weise am Horizont hat kommen sehen und deren Herkunft er selbst miterlebte: Im fortschrittsgläubigen Optimierer Faust zeigt sich nicht zum letzten Mal die Verweigerung des Augenblicks zugunsten der Ungeduld. Musikalisch verkörpert sieht Goethe das Veloziferische im Don Giovanni: Obwohl dieser ohne den Teufel auskommt, bleiben seine Triumphe der Verführungen und Verwüstungen im Modus der Beschleunigung, bis hin zum Prestissimo der Champagner-Arie, in der sich auch ein Geist der Moderne widerspiegelt.

Später ist es Friedrich Nietzsche, der in seiner Kulturkritik die „moderne Unruhe“ heftig kritisiert. Nach Amerika blickend diagnostiziert er eine starke Beschleunigungszunahme und verbindet damit einen Kulturverfall. Nietzsche fordert ein „lento,“ ein „sich Zeit lassen, still werden, langsam werden.“ Seine Fingerzeige auf Längen und Pausen verweisen darauf, dass Körper und Psyche ihrem eigenen Lebensrhythmus zu gehorchen haben und nicht einzig unter das Joch der Chronokratie gehören. „Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen“, so beschreibt Hartmut Rosa heute das Paradoxon unserer Moderne, mehr Zeit durch Schnelligkeit zu generieren.

Wenn Rosa dann zu dem Schluss kommt, dass „Entschleunigung die mächtige Gegenideologie des 21. Jahrhunderts werden“ könne, meint er nicht die vordergründigen Ideologien, wie sie sich in der wöchentlichen Yoga- oder Wellness-Einheit widerspiegeln, um dann nach Wiederherstellung der Arbeitskraft das alte Leben weiterzuführen. Hartmut Böhme spricht von einer artifiziellen Welt des Innehaltens, der Reflexion, die er in künstlerischen Weltzugängen ausmacht: „Die Kunst der Verlangsamung, das ist die Eremitage der Moderne.“

Während ein Ende des Kapitalismus bisher nur herbeigeredet wird, Hoffnungen auf einen Systemwechsel bereits in der eindringlichen Rede vom Kamel und dem Nadelöhr verworfen werden, selbst der plötzliche Stillstand in pandemischen Zeiten keinen Wandel herbeireden kann, hat in der Musik längst ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Was sich unter dem Schlagwort Neue Einfachheit nur unzureichend fassen lässt, ist eine entschleunigende, oft meditative und von fernöstlichen Philosophien beeinflusste Haltung, die sich dann auch in der Musik niederschlägt: Geraten wir beim Hören dieser Musik in einen kontemplativen Zustand, wird sie zur Befreiungsfantasie, um herauszukommen aus den Zwecksetzungen des Alltags, die wir selbst in ein Konzert hineintragen, wenn wir unseren Blick nicht öffnen, sondern unsere Aufmerksamkeit einengen lassen, wartend auf die zu identifizierenden Muster, als müsse selbst der Konzertbesuch zu einem Erkenntnisprojekt werden. Auch das über bloße Tatsachen hinausweisende Erahnen oder Erspüren ist eine wissenschaftliche Haltung, die in der Philosophie längst nicht mehr kritisch beäugt wird.

Zweckorientierte Bildungsmaßnahmen

„Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben“, das sollte auch das Motto für den Musikunterricht sein. „Unsere Kunst muß aus sein auf den Himmelsschrei“, fordert Peter Handke. Für den Musik­unterricht scheint das nicht immer zu gelten, und man möchte es eigentlich auch niemandem zumuten, einmal selbst „über die Dörfer“ zu gehen, um statt des Himmelschreis den inzwischen für gut befundenen Musikunterricht selbst einmal zu erleben. Die hier praktizierte Verdichtung von Handlungsepisoden, Verkürzung der Pausen, das arbeitsteilige Multitasking, drängt auch in die knappen Zeitepisoden des schulischen 45-Minuten-Urmaßes ein: „In der Hinführung wird das Vorwissen aktiviert, das Stundenziel transparent erläutert, dann das Vorgehen in der Gruppenarbeit transparent vorgestellt, die Erarbeitung der Musik in der Gruppenarbeit mit den dreifach differenzierten Lernmaterialien besprochen, das Musizierprodukt in der Ergebnissicherung vorgestellt und kritisch reflektiert.“ In solchen Bildungsversprechen, die einer beliebigen Unterrichtsreflexion entnommen sein könnten, zeigt sich, wie wir uns mit Dingen beschäftigen, die wir nie kontrollieren werden und dabei dennoch so tun oder tun müssen, als ob das Unverfügbare verfügbar wäre und wir im Rahmen der Ausbildung zunehmend lernen, es beherrschen zu müssen. Für viele Kinder findet hier die vielleicht erste und letzte Begegnung mit Musik und den vielfältig zu erlebenden Farben statt.

Welche Folgen hat es, wenn bereits hier effizienzorientierte Kalküle einer anonymen Macht und die Herrschaft von Zeit und Zahl regieren? Statt im Augenblick zu verweilen, zu staunen und sich in den Farben zu verlangsamen, zeigt sich auch im Musikunterricht das Gegräu schulischen Alltags.

Farbenlehre der Künste

Wer erinnert sich nicht an den schwedischen Musikfilm „Så som i himmelen“, in dem der gefeierte, nach einer selbstzerstörerischen Karriere aber auch ausgelaugte Dirigent Daniel Daréus in sein Heimatdorf zurückkehrt, um sich in dieser Abgeschiedenheit zu entschleunigen. Das Streben nach Perfektion in einem von Abrichtung und Auslese geprägten System wurde ihm zum Verhängnis, im dörflichen Kirchenchor kann er sich von solch einem ‚Seinsollen‘ lösen, erst hier erfüllt sich sein Traum von einem Musizieren, das die Herzen der Menschen erreicht und verbindet: Die Musik wird Ausdruck der Sehnsüchte, Werkzeug der Heilung, zur Brücke zu und zwischen den Menschen, die in all ihren Verschiedenheiten ihre Lebensgeschichte in ein Musizieren einbringen, das alle Beteiligten über dieses hinaus prägt und nachhaltig verändert.

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Entschleunigung des Konzertbetriebs, hier praktiziert auf dem Ritten in Südtirol. Foto: Susanne van Loon

Entschleunigung des Konzertbetriebs, hier praktiziert auf dem Ritten in Südtirol. Foto: Susanne van Loon

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Gerade in der Musik werden die hellen und dunklen Seiten menschlicher Normierungs- und Optimierungsprogramme wohl mehr als deutlich, liegt doch im Musizieren selbst ein tief in uns sitzender Wunsch nach Vollkommenheit: Losgelöst von allen teleologischen Festlegungen, spricht aus dem homo modificans ein anthropologisch begründetes, begehrendes Verlangen, sich als ein optimierendes Wesen zu verstehen. Auch wenn die Musik uns wie ein Navigationssystem durch unser Leben führt, wird man hier nie sagen können: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“ Es gibt auf dem Weg kein Ende, an dem man halt machen könnte. Der Weg, also die Selbstoptimierung, wird zum eigentlichen Ziel. Kompetenzsteigerung fördert nicht allein das Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl und das musikalische Handlungspotenzial der Musizierenden, sondern auch deren Konkurrenzfähigkeit in einer Leistungsgesellschaft, wie sie sich mittlerweile auf alle Lebensbereiche erstreckt. Was geschieht nun mit uns Menschen, wenn die in Schule und Arbeitswelt erlebten Handlungen, Widerfahrnisse und Erlebnisse im Freizeitbereich ihre Fortsetzung finden?

Dabei gab es mal eine Zeit, als Ruhe einkehren konnte in das Subjekt, in der man sich begegnen konnte im Müßiggang und gegenseitigen Zeitvertreib, im Divertissement: Seit dem 17. Jahrhundert steht dieser Gattungsbegriff über die Musik hinaus für eine aristokratische Lebensform der Zerstreuung, der dann ein bürgerlich-pietistisches Arbeitsethos entgegengestellt wird. Hier nun wird Musik ‚gearbeitet‘, was dann in der ‚Etüde‘ mit ihren musikalischen Portionierungen der einzelnen Arbeitsschritte eine Entsprechung findet.

Ein veloziferischer Musikunterricht generiert sich also nicht nur aus einem Schul- bzw. Ausbildungssystem, sondern auch aus der Musik selbst heraus. Man denke hier nur an die Etüden Carl Czernys, die – wie eine zeitgenössische Rezension es berichtet – „mittels Dampfkraft“ verfertigt wurden.

Musik: Lebensmittel oder Lebensergänzung?

Nun lebt eine ganze Industrie von Achtsamkeit, vermittelten Coaching-Seminaren, Apps, die die Vorzüge des Innehaltens offenbaren. Wir befinden uns in einem gesamtgesellschaftlichen Achtsamkeitsworkshop, um dann noch effizienter in die Arbeitswelt zurückkehren.

Es bleibt unser aller Aufgabe, hier dem Denkfehler immer wieder nachzugehen, gilt es doch, Musik als Lebensmittel und nicht als ein Nahrungsergänzungsmittel, als eine besondere Form des Ausdrucks und der Aneignung und nicht als Therapeutikum und Ort des temporären Rückzugs, zu begreifen. Für Ernst Bloch ist Musik ein „Spiegel des Utopischen“, sie verhält sich „seismographisch“ zum gesellschaftlichen Sein. Ein in Beethovens 5. Sinfonie hineingelesenes „Durch Nacht zum Licht“ ist wohl das prominenteste Beispiel einer solchen musikalischen Utopie, die uns immer wieder auffordert, mit ihr über den Zustand der Welt nachzudenken.

Schon immer hat Musik Türen geöffnet, Grenzen gesprengt, die Welt bewegt. Sie allein kann die Welt nicht heilen, sie bleibt aber ein Ort der Transformation gesellschaftlicher Widersprüche, um herauszutreten aus der alltäglichen Lebensnot, das Schöne und Wahre in den Alltag zurück zu spiegeln: „Verlangsamt euch mit Hilfe der Farben – und erfindet: seht das Grün und hört das Dröhnen, und verwandelt eure unwillkürlichen Seufzer in mächtige Lieder.“

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