„Nivelheim und Muspelheim“ so heißen in der Kantate „Mythen und Legenden“ die urtümlichen Orte im Süden und Norden an denen die Welt nach isländischem Mythos „voll Flammen, Rausch und prasselnder Glut“ dereinst entstand. In dem dazugehörigen Lied „Feuer und Eis“ schaukelt die Melodie in wogenden Terzbewegungen auf und ab und man kann nur darüber staunen wie ausdrucksstark die Kinder der 5. Klasse an der Katholischen Schule St. Franziskus in Berlin Schöneberg das Lied nach kurzer Probezeit vortragen. Neben dem Gesang kommt noch vokales Rauschen und Pfeifen ins Spiel, wodurch sich eine geheimnisvolle Atmosphäre einschleicht.

RIAS-Chorpate Jonathan de la Paz Zaens und Kinder kurz vor der Generalprobe. Foto: Fabian Schellhorn
Weltentstehung als musikalischer Mythos
Es ist Anfang Juni und wir sind bei einer Probe für das gleichnamige Projekt „Mythen und Legenden“, das der RIAS Kammerchor zusammen mit insgesamt sieben Grundschulen verwirklicht. In gut zwei Wochen soll das knapp dreißigminütige Stück im Konzertsaal der Universität der Künste mit insgesamt sieben Grundschulchören und einem ausgesuchten Patenchor – in dieser Saison ist es die Junge Kantorei des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder – auf die Bühne gebracht werden.
Anja Hofbauer, Musiklehrerin an der Katholischen Schule St. Franziskus, hat die Kinder bereits recht gut vorbereitet, aber in dieser Probe ist mit dem Bass Jonathan E. de la Pas Zaens ein Profisänger des RIAS Kammerchors dabei. Als einer von insgesamt drei „Schulpat*innen“ unterstützt er die Probenarbeit an den Grundschulen, indem er von Zeit zu Zeit den Musikunterricht besucht und bei der Einstudierung der Lieder behilflich ist. „Ich habe keine pädagogische Ausbildung“, meint de la Paz Zaens, „aber ich merke sofort, wo ich Dinge verbessern kann.“ Lachend fügt er hinzu: „Das bringt mir natürlich auch Freude, wenn dann das Resultat sofort kommt!“ Bei den beteiligten Grundschulen handelt es sich übrigens nicht um Schulen, die einen besonderen Musikschwerpunkt haben, sondern hier singen ganz normale Klassen mit Schülern und Schülerinnen, die zum Teil nur wenig Gesangserfahrungen haben.
Aber de la Paz Zaens geht mit viel guter Laune und Einfühlungsvermögen an die Sache. Wenn sich zwei Jungs kabbeln, stellt sich der Profisänger lachend dazwischen. Mit seiner sonoren Stimme verschafft er sich Respekt und macht den Kindern genau vor, mit wie viel Ausdruck und Differenzierungen sich ein Lied gestalten lässt. Mal sollen sich die Schüler beim Singen im Raum verteilen, mal kleine Gruppen bilden. Die Phrasen werden in unterschiedlicher Dynamik gesungen und de La Paz Zaens fordert eine genaue Textverständlichkeit. Dann sollen die Kinder sich so umdrehen, dass sie den an die Wand projizierten Text nicht mehr sehen: „Zwischendrin der Welten heiß und kalt, Ginungagap, ein leerer schwarzer Abgrund tief, schier endlos ohn’ Gestalt“, singen die Kinder fast ohne Probleme weiter. So wird alles zum Spiel und die Schülerinnen und Schüler sind konzentriert und mit viel Spaß bei der Sache.
Education-Arbeit als Herzensangelegenheit
„Education-Arbeit“ und Musikvermittlung hat beim RIAS Kammerchor seit etlichen Jahren einen herausragenden Stellenwert. Unter dem jetzigen Chefdirigenten Justin Doyle ist dies noch weitergewachsen und ausgebaut worden. So gibt es zum Beispiel „Publikumsworkshops“ in denen Doyle mit Hobbysänger:innen, Chorleiter:innen und Interessierten ein vielfältiges Programm erarbeitet. Hier bekommt man Einblicke in Doyles Probenmethodik und man erfährt viel darüber, mit welchen Interpretationsideen Chormusik unterschiedlichster Epochen realisiert werden kann. Schulklassen können auch an „Offenen Generalproben“ teilnehmen, um dadurch die Musik ausgewählter Konzerte besser kennenzulernen. Es gibt ferner einen „Musikalischen Salon“, wo im lockeren Rahmen Musik, Kulinarik und Gespräche im Vordergrund stehen sowie Programme für Gesangsstudierende. Herausragend ist zudem die Möglichkeit für ambitionierte Schulchöre, eine Saison lang „Patenchor“ des RIAS Kammerchors zu werden. Coaching, Stimmbildung, Besuche des Chefdirigenten und gemeinsame Proben ermöglichen den beteiligten Schüler:innen sich dem Singen auf Profiniveau anzunähern. Am Ende steht dann ein gemeinsames Konzert, das in diesem Jahr mit dem Projekt „Mythen und Legenden“ verbunden wurde.
Isländischer Weltentstehungsmythos
Sowohl der Patenchor als auch die sieben Grundschulklassen trafen sich mit dem RIAS Kammerchor einen Tag vor dem Konzert zur Generalprobe in der Wilmersdorfer Auenkirche. Erst jetzt wurde die Dimension des gemeinsamen Projekts deutlich: Da nicht alle Grundschüler in die Kirche passten, musste in zwei Durchgängen geprobt werden. Die Befürchtung dem anfänglichen Chaos mit den gut 200 Teilnehmer:innen nicht Herr werden zu können, zerstreute sich innerhalb weniger Minuten. Doyle nutzte die linken und rechten Bankreihen, um die Grundschüler in zwei Chöre aufzuteilen – die auch in der Kantate teilweise im Wechselgesang agieren – und platzierte den RIAS Kammerchor dahinter, der sich sogleich mit der Kantorei des evangelischen Gymnasiums Hermannswerder mischte. Vom Altarraum dirigierte und koordinierte der Chefdirigent das musikalische Geschehen, flankiert von der Pianistin Helen Collyer und dem Perkussionisten Michael Weilacher, die den Instrumentalteil von „Mythen und Legenden“ bildeten. Nun konnte man einen Gesamteindruck des knapp 30-minütigen Stückes gewinnen: Sieben isländische Volksweisen kombinierte Doyle, der auch der Urheber des Stückes ist, originell mit instrumentalen Zwischenspielen, die wiederum mit Motiven aus Wagners Ringzyklus gespickt sind, denn der hier besungene Odin ist kein anderer als Wagners Wotan.
In der Abfolge der Lieder verblüffte zunächst der erstaunliche Reichtum an Abwechslung: Mal hat ein Lied eine elegische Melodie, mal kommt ein anderes wie ein munterer Tanz daher. Man hört lustiges Geschnatter, wenn die mystischen Riesen ihre Waffen schmieden, und vernimmt düstere Passagen, wenn das „Zwergenland: Gebor’n aus Maden im Leib vom toten Gigant“ erschaffen wird. In wieder anderen Liedern dominieren kultische Klänge oder aufrüttelnde Märsche. Im besänftigenden Epilog schließlich treten die Chöre wie zu Beginn der Kantate in ihren berührenden, stimmungsvollen Wechselgesang. Das alles und noch viel mehr hat dieser kleine Geniestreich für Kinder- und Erwachsenenchöre zu bieten, wobei in dieser Aufführung die Schulchöre, zusammen mit dem RIAS Kammerchor und dem Patenchor wunderbar miteinander korrespondierten und sich musikalisch ergänzten.
Eine besondere Partnerschaft: der Patenchor
Der Patenchor wiederum agierte für dieses Projekt auf zwei Ebenen: als Beteiligter an der Kantate und mit der Präsentation eines Programms, das exklusiv und gemeinsam mit dem RIAS Kammerchor erarbeitet wurde. „Ihr seid die Botschafter, denn ihr seid von uns inspiriert“, erläuterte Doyle den Sängerinnern und Sängern des Patenchores. „Die Grundschulkinder, die dann dazu kommen“ sagt Doyle „werden merken, wie toll so ein Gymnasialchor klingen kann. Dann sagen sie sich: Oh, das möchte ich auch können! So werden Ambitionen geweckt“. Und natürlich ist es amüsant zu beobachten, wenn die Grundschüler nach der Generalprobe den Chefdirigenten um ein Autogramm bitten. Für Doyle eine willkommene Gelegenheit, sein eigentliches Anliegen an die Kinder zu bringen. „Wie heißt du?“, fragt er jedes einzelne Kind. Über seinem Autogramm steht dann zum Beispiel folgende Widmung: „Für Nils – Weiter singen!!!“
Im Abschlusskonzert aber konnten die Grundschüler die Junge Kantorei des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder auch noch anders erleben. Die engagierten Musiklehrer Matthias Salge und Nico Bracda wählten für die Zusammenarbeit mit dem RIAS Kammerchor Komponisten aus der Barockzeit, der Hochromantik sowie ein zeitgenössisches Stück.
Am Anspruchsvollsten war dabei zweifellos die achtstimmige Motette „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir“ von Johann Sebastian Bach. Dass dieses Stück ein „Aufwand für alle ist“, gibt Doyle gerne zu, unterstreicht aber, „dass hier beide Chöre voneinander profitieren.“ Erläuternd fügt er hinzu: „In Hermannswerder ist so eine Entdeckungsfreude! Und auch wenn der RIAS Kammerchor Bach oft singt, merkt der Chor nun, wie es ist, diesen Komponisten für sich zu entdecken. Die Neugier und das Feuer der jungen Leute wird hier verbunden mit der Professionalität und den Probentricks von uns RIAS-Sängern und Sängerinnen. Das ist in beide Richtungen bereichernd.“ Und so standen schließlich im Konzert die beiden Chöre in gemischter Aufstellung beisammen, um Bachs komplexe und anspruchsvolle Motette mit ihren miteinander verzahnten Stimmeinsätzen und langen polyphonen Strecken auf beeindruckende Weise darzubieten.
Am besten geriet aber das Chorstück „My soul, there is a country“ des englischen Komponisten Charles Hubert Parry. Hier konnte man sich in eine spätromantische Klangwelt der nachviktorianischen Epoche versetzen lassen, in der überbordende Emotionen zu Musik werden. Parry komponiert eine dichte polyphone Musik, die immer wieder in einen homophonen Satz mündet. Die Höhepunkte der Motette kommen in dieser Interpretation wunderbar zur Geltung und die melodischen Linien sind klangstark ausgesungen. In einem deutlich artikulierten, fast erzählenden Vortrag vernimmt man zugleich viele feine dynamische Abstufungen. Und das vielleicht Wichtigste dabei: Unter dem souveränen und sehr entspannten Dirigat von Doyle verschmilzt der RIAS Kammerchor mit seinem Patenchor zu einem musikalischen Ganzen. Gleiches galt selbstredend für das Stück „Immortal Bach“ des norwegischen Komponisten Knut Nystedt. Hier bauten die beiden Chöre aparte Klangflächen auf, die immer vollstimmig und sonor intoniert wurden.
Auch in der nächsten Saison wird es wieder einen Patenchor geben, der das Privileg hat, in gemeinsamen Proben mit dem Chefdirigenten des RIAS Kammerchors ein eigenes Programm zu erarbeiten und dies dann in einem großen Abschlusskonzert mit den Profisängerinnen und -sängern zu präsentieren.
Die Kantate „Mythen und Legenden“ hat Justin Doyle übrigens in Großbritannien schon des Öfteren einstudiert und auf die Bühne gebracht. Die großartige Berliner Aufführung zeigt, dass das Stück auch hierzulande das Potential hätte, zum Repertoirestück musikalischer Projekte an Schulen zu werden. Der RIAS Kammerchor hat das Stück im Rahmen seiner Education Programme bestimmt nicht zum letzten Mal aufgeführt.
„Solche Konzerte sind immer ein ganz besonderes Erlebnis“, sagt Anja Hofbauer und ergänzt „das ist einfach nachhaltiger als nur Unterricht nach Plan. Alle Beteiligten sind am Ende sehr bewegt.“ Jonathan de La Paz Zaens, der bei den Education-Projekten des RIAS Kammerchors immer wieder ähnliche Erfahrungen macht, fasst es so zusammen: „Wenn es zur Aufführung kommt, sind alle hochkonzentriert. Dabei entsteht eine einzigartige Magie. Dieses tolle Erlebnis begleitet die Schülerinnen und Schüler ein Leben lang.“
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