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Die nackte Wahrheit

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Wovon handelt die Kunst? Erst jüngst entzündete sich an dieser Frage eine heftige Debatte, die mitten hineinführte ins mehr oder minder finstere Herz unserer Gegenwart. Die Kulturen krachen aufeinander. Und anders als beim kämpferischen Zivilisationstheoretiker Samuel Huntington sind die Fronten nicht klar und übersichtlich, sondern die Bruchlinien ziehen sich mitten durch unsere Gesellschaft, ihre diversen Milieus, ja selbst durch einzelne Subjekte. Die feuilletonistisch vollzogenen Selbstdefinitionen beziehungsweise, wie Nietzsche es genannt hätte, Wertschätzungen und Wertsetzungen folgen dabei der alten Regel des Philosophen Spinoza: „Omnis determinatio est negatio“. Soll heißen: Im heftigeren Klima des neuen Kulturkampfes kommen „wir“ zu uns, indem wir andere und anderes ausschließen. Jede Entscheidung von einem gewissen existenziellen Ernst vernichtet alle anderen Möglichkeiten.

Mit den frivolen und ironischen Strategien der Dekade vor dem 11. September scheint es einstweilen vorbei. Und vielleicht war das „Attentat“ auf die Börseneuphorie inklusive des Kollapses der an der wundersamen Geldvermehrung hängenden narzisstischen Lebensformen entscheidender als der Einschlag fremdgesteuerter Flugzeuge in eine der Zentralen westlichen Wirtschaftens. An die Stelle des mehrdeutigen Übermuts tritt eine neue Wahrheits- und Werte-Entschlossenheit. Dieser Fundamentalismus, der immer schon weiß, was (für alle) richtig und notwendig ist, verbindet sich aber mit einer merkwürdigen Scheu. Man will „die“ Wahrheit, aber man will sie beileibe nicht „nackt“. Im FAZ-Feuilleton findet seit mehr als einem Jahr ein merkwürdiger Kreuzzug gegen die Kultur der Entblößung statt, für die vor allem der eloquente Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier und die höchstempfindliche Ballett-Beschreiberin Wiebke Hüster stehen. Deren These ließe sich so zusammenfassen: Wer „alles“ zeigt, (zer)stört nicht nur das ästhetische Vergnügen, sondern vernichtet die Kunst und, mehr und schlimmer noch, die Welt, auf die sie sich darstellend bezieht.

Was sich hier, kämpferisch und mit einem gewissen Vernichtungswillen ausgestattet, präsentiert, ist die säkulare Entsprechung zu dem uralten Bilderverbot der Hochreligionen, vor allem des Judentums und des Islams. Wer Gott zeigt, treibt Schindluder mit ihm, verwandelt sich gewissermaßen in einen Götzendiener. Wer Mohammed „vorführt“, sei es in einer Erzählung (wie einst Salman Rushdie) oder im per se verzeichnenden Bild (wie jüngst im Karikaturenstreit), macht sich eines Übergriffs schuldig. Wer das Höchste „nackt“ vorführt, muss mit explosiven Reaktionen rechnen. Das rationale Moment daran ist die Vermeidung des Fetischismus, also der Vernichtung der Transzendenz durch ihre Aneignung. Jeder dieser Versuche ist schändlich und sündhaft, nicht nur der kritische oder polemische. Judentum und Islam sind sich einig, dass sich das Transzendente der Darstellung entzieht.

Was aber macht die Feuilletonisten so wütend, wenn es um die „nackte“ Wahrheit auf dem Theater geht? Warum ist es so wichtig, dass der Körper nicht gezeigt wird, sondern entzogen bleibt? Die vordergründige Behauptung, dass das Nackte banal sei, verträgt sich nicht mit der Erfahrung, dass sie für heftige Erregung sorgt. Wenn man Gerhard Stadelmaier ernst nimmt – und in ihm nicht nur den Kostüm- und Maskenfan vermutet, als der er sich gelegentlich kostümiert und maskiert – , dann scheint er der Ansicht zu sein, dass es bestimmte, äußerste Wahrheiten gibt, denen man sich nicht direkt, sondern nur metaphorisch, im Spiegel der Repräsentation nähern kann. Deutet man ihn so, dann wird auch seine scheinbar paradoxe Haltung dem neuesten Botho-Strauß-Stück „Schändung“ gegenüber halbwegs verständlich. Stadelmaier ist ja nicht der kulturkritischen und meist nur auf mangelnder Sachkenntnis und fehlendem historischen Bewusstsein beruhenden Ansicht, dass es „das“ früher nicht gegeben hätte. Er weiß durchaus, dass die neueste „Schändung“ in ihrem Vorbild, Shakespeares „Titus Andronicus“, ihren Meister findet. Weder Strauß noch seine Regisseure verzeichnen den Text der blutigen Geschichte. Sie zeigen, was geschrieben steht. Aber offenbar verletzen sie damit ein Tabu und rühren an ein Trauma. Am hysterischen Sub-Text von Wiebke Hüsters Kritiken offenbart sich, dass die „heilige“ und das heißt immer auch: die fürchterliche Nacktheit mit Auslöschung gleichgesetzt wird. Wer mitten hineinsieht in die „Sonne“, wird nicht sehend, sondern blind.

Und die Musik? Ist spätestens seit Schopenhauer das Medium, in dem sich zeigt, was sich sonst nirgends zeigt, also das Welt- und Selbst-Innerste, der dunkle Drang, der den Dingen der Erscheinungswelt nicht nur vorausgeht, sondern sie hervortreibt. Allen plastischen, machtbewussten Zeitaltern war die Musik verdächtig: als auflösende Kraft, nicht nur als Erlösungs-, sondern geradezu als Jenseitsdroge, als die sie in Richard Wagners transzendentalen Gesamtkunstwerksopern erscheint. Führt der Tristan-Akkord in einen Bereich, aus dem keiner unversehrt zurückkehrt? Bei Leonard Cohen ist die heilige Nacktheit die Schaltstelle der meisten seiner Songs, die ihrerseits Bibel-Paraphrasen sind. „Naked“ ist bei ihm das Losungswort, das einem die Passage in den heiligen Bereich ermöglicht. Wiebke Hüster aber vermutet dort eine traumatische Hölle, die ihr Wesen verzerrt und fragmentiert, der „Heide“ Stadelmaier dagegen ein Nichts, das weder den Einsatz öffentlicher Gelder noch seiner wertvollen Abendstunden rechtfertigt.

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