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Rote Polster-Theaterstühle mit schwarzem Gestellt auf schwarzem Boden. Im Hintergrund eine cremefarbene Wand mit reichlich Leuchten. An der fotografierten Stuhlreihe eine Nummer: 9.

Reihe 9 im Theater an der Blinke (Leer).

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Reihe 9 (#103) – Acqua alta

Vorspann / Teaser

Viel zu wenig beachtet werden in der gewöhnlichen Berichterstattung die kleinen Theater – sowohl in den größeren Metropolen wie auch auf dem Land. Wenn die Wege weit werden, sind sie vor allem dort Stätten einer oft übergangenen kulturellen Grundversorgung. Es sind Orte, in denen ganz unterschiedlichsten Programme über die Bühne gehen: von Konzerten und Balletten über Schauspiel und Kinderprogramme bis hin zur Lesungen und Kleinkunst sowie allerlei freien Formaten aus allen erdenklichen Genres. Schaut man sich hie und dort einmal die Spielpläne an, wird aber rasch klar: An den meisten Abenden bleiben die Lichter aus, und das Haus befindet sich in einem teilweise wochenlangen Dornröschenschlaf. Und dennoch: Sie bilden in vielen Regionen das Rückgrat einer breiten Gesellschaft, die in der Provinz noch intakt scheint.

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So auch im Süden von Ostfriesland in Leer, im Theater an der Blinke. Ein Bau, der eine besondere Geschichte hat, denn ursprünglich handelte es sich um die Ems-Aula der Berufsbildenden Schulen. 2011 erfolgte nach einem grundlegenden Umbau die Neueröffnung als modernes Haus. Freilich: Das Treppenhaus zur Empore, die Saaltüren, die nicht lautlos schließen wollen, haben noch den bleibenden Charme der 1970er Jahre. Akustisch ist der Stand seit der Renovierung vermutlich erhalten geblieben – die ständige Erneuerung der rasant sich digital entwickelnden Ton-Technik oder die Anschaffung eines lichtstarken Beamers geht nur allzu leicht in den sechsstelligen Bereich. Viel zu schnell setzt dann in der unmittelbaren Gegenwart ein unüberhörbarer oder unübersehbarer Alterungsprozess ein: wenn Projektionen lichtschwach verschwimmen, wenn auf der Empore der (verstärkte) Ton nicht ankommen will. Das Echo ist umso lauter, wenn Dutzende von Kilometern entfernt auch in Greetsiel darüber gesprochen wird.

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Doch wie bei klammen Kassen die notwendigen Erneuerungen finanzieren? Jedenfalls saß Ende Juni bei einer Lesung von Ulrich Tukur die Tontechnik sprichwörtlich in der ersten Reihe, also in Reihe 9. Das klangliche Ergebnis war allerdings nur mittelgut (so ein neuerer deutscher Euphemismus), erst nach der Pause (und mehreren gutwilligen Hinweisen) stellte sich verhaltene Besserung ein. Fast ging dabei verloren, welch große Themen Tukur an diesem Abend bewegte. Geschichte(n) aus seinen Jahren in Venedig, dazu ein paar musikalische Einlagen. Wer genau hinhörte, konnte miterleben, wie sich eine Stadt im Sog des Tourismus auch im Kleinen systematisch veränderte, wie Menschen ein Leben lang blieben – und andere auf tragische Weise gingen. Wie sich die Serenissima allmählich selbst zu Grabe trägt, während das Acqua alta nicht nur auf dem Markusplatz beständig wiederkehrt. Es war auch dieses Hochwasser, das im Stillen den Bogen schlug zu den Gezeitenkonzerten der Ostfriesischen Landschaft – in einem Landstrich, in dem der ewige Wechsel von Ebbe und Flut noch oft genug den Lauf des Tages oder mancher Insel-Abfahren bestimmt. Gut so.

Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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