Stadtbild, Stadtbild, Stadtbild. Die Nation diskutiert, streitet, prügelt sich um einen Begriff, der vielseitig zu interpretieren ist, in vieler Hinsicht aber auch einfach zu erklären wäre. Jedenfalls ist er dynamischer, reizbehafteter im Umlauf als das aktuelle Kultwort der Jugend („das crazy“ – wie blöd). Zwar ist Print angeblich out, Wimmelbild-Bücher verkaufen sich aber, großformatig, wie sie sind, immer noch ganz anständig. Und wenn man den Content so eines Buches mit pfiffigen Ideen aufpoliert, ein bisserl science-fiction-mäßig schminkt, garantiere ich einen Monster-Sale, einen Spiegel-Bestseller in asterixmäßigem Umfang. Zudem hat das Ganze neben unterhaltenden jede Menge bildende Aspekte. Ein finanziell unschlagbares Konzept. Ich wähle für mein Exposé zunächst zwei unterschiedliche Städte. Beginnen wir mit dem München-Wimmel. Es sollte ein bisschen in die Zukunft weisen bei einem unsentimentalen Mini-Rückblick in die Vergangenheit.
Theo Geißler. Gemälde von Anneliese von Markreither. Foto: Theo Geißler
Theos Kurz-Schluss: Wie mich einmal ziemlich überflüssiges pseudopolitisches Parteiengezänk mit einer feinen verlegerischen Idee versorgte
München, das war einmal eine emsige bayerische Millionenstadt eher konservativer Gemütslage. Jetzt, 2035, ist es nahezu der Bauch, das Kleinhirn, die Leber und die Niere der Menschheit. Ein einziges grenzenloses Oktoberfest, auf dem Milliarden Menschen sich um Luft, Bier und WLAN prügeln. Die Erde selbst scheint sich um die Theresienwiese zu drehen, das ist auch zeichnerisch gut zu bewältigen. Alle Straßen enden an Zapfhähnen. Aus den ehemaligen Universitäten sprudeln statt Gedanken nur noch Weißbierfontänen. Die Polizei regelt den Verkehr mit Masskrügen in weiß (stop) und blau (go). Das ideale Wimmelbild-Sujet.
Jeder Bürger ist verpflichtet mindestens dreimal am Tag „Wackelkontakt“ (von Oimara, Tegernsee) „Laila immer gaila“ (Dieter Bohlen, Dieter Gorny, Berghain) und die Bayernhymne (Edmund Stoiber, Promillidorf) zu intonieren (zum Anhören eingeschweißten WWW-Funk-Chip antippen) unter Ansetzen des Maßkruges. während digitale Dirndl, gefüllt mit Robot-Madln in optimaler gynäkologischer Gesamtausstattung über den als Glatteis gemalten Asphalt tanzen. Für die ganzjährig stattfindenden olympischen Winter- und Sommerspiele hat man sich attraktive neue Disziplinen ausgedacht: Wellenreiten auf der bis zum Tegernsee aufgestauten Isar (die Mangfall wurde „integriert“). Der Hirschberg mit seinen Doppelgipfeln wurde dank Elektronik-Schrott und Plastikmüll-Spenden um sieben Kilometer aufgepolstert. Gelegentliche Ski-,Rodel- und Bob-Disziplinen können im Bild überzeugend dargestellt werden. Die Biathletinnen und Biathleten dünnen das Feld ihrer Konkurrenz mit der leichten Uzi aus – a bisserl Blut (Zinnober) muss sei. Folglich: ein supertolles multiinterpretationsmögliches Bilderwirrwarr.
Man bezahlt natürlich längst nicht mehr mit Geld oder digital, sondern mit Vollrauschpunkten. Wer genug säuft, darf weiterleben im Paradies der Schaumschlucker. Die üppig vorhandenen Milliardäre lassen sich in privaten Sauerstoffzelten mit frischem Atem aus Epstein-Gefäßen bedienen, während der geschrumpfte Rest der Menschheit sich in der rauchgeschwängerten Festhalle des Weltmarkts mit feuchten bakterienhaltigen und deswegen auch nahrhaften Schleimpartikeln vollatmet. Die Stadtregierung, ganz offiziell Ministerium für Dauergaudi genannt, verkündet täglich neue Rekorde. Weltbeste Stimmung, höchster Promillewert, niedrigste Lesekompetenz, höchste Leberzirrhosewerte sind in kleinen Infokästen auf den ansonsten multicolorziselierten DIN A 0-Seiten zu lesen.
Wimmel-Stadtbild-München ist nicht mehr Deutschland. Wimmel-München ist ein Fest, das die Welt verschluckt hat. So, das wäre ein vorzügliches Sujet.
Das zweite Wimmel-Stadtbild-Buch sollte spannungshalber kontrastieren. Ideal wäre Berlin – in einer zu erwartenden weiteren Dauerkrise: Über dem bleigrauen Himmel schwebt noch der bombastische Nachklang eines Angriffs. Rauchtürme steigen auf zwischen den Resten der Häuserfassaden, und der Ruine der Oberbaumbrücke, ziehen träge über die zerbrochenen Kuppeln von Reichstag und Dom. Regierungsgebäude verbrannt, geschrumpft zu Dönerbudenformat. Berlin liegt da wie ein zerfetzter Organismus. Seine Adern aus Straßen und Schienen durchtrennt, bombendurchtrichtert. Die Angriffsdrohnen hatten keine Flaggen getragen, das war zu erwarten. Und auch keine Botschaft hinterlassen. Wem auch. Sie kamen schließlich, um Land zu erobern und nicht um Menschen zu päppeln.
Sie kamen mit dem lautlosen Summen technischer Überlegenheit, die von interessierten Kreisen als „Alienware“ verkauft wurde. Die Drohnenschwärme zogen in V-förmigen Linien, Kranichen gleich über den Spreebogen, ließen ihre Bombenlast fallen, als würden sie chirurgische Schnitte in die Topografie einer alten Zivilisation ritzen. Man sieht Suchtrupps durch die Ruinen streunen und humpeln. Zwischen den verkohlten Fassaden des Alexanderplatzes hängen die holographischen Werbetafeln in Fetzen, aber immer noch flimmernd in der Luft. Produkte sind kaum noch erkennbar und könnten allenfalls ein Publikum bewerben, das nicht mehr existiert. Ein paar Menschen in improvisierten Exo-Suites aus alten Plastiktüten mit den Aufdrucken „Plus“ oder „Das Leben ist schön“ durchkämmen die Bezirke Charlottenburg, Kreuzberg, Friedrichshain auf der Suche beispielsweise nach Energiezellen. Mit wenigen Strichen verdeutlicht, in der Hoffnung, Gemeinsamkeiten zu finden und dank Gemeinsamkeiten zu überleben. Die Spree ist trüb braunschwarz von Asche. Auf Brücken, die noch als Trümmer in die Luft ragen, blinken vereinzelte Drohnenlichter, Freund oder Feind, niemand kann es unterscheiden.
Berlin, im Vorwort unseres Wimmelbild-Buches noch dargestellt als ein Zentrum europäischer Kultur, ist jetzt eine Projektionsfläche für die weitverbreitete Zerstörungskraft von Weltmächten, eine Location, in der Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Zerfall dominieren. Irgendwo tief unter der Stadt in alten U-Bahn-Schächten sendet ein undefiniertes Signal kurze Impulse, (eingeklebter WWW-Chip) regelmäßig, fast wie ein Herzschlag, zynisch, denn die meisten Herzen haben ja aufgehört zu schlagen. Suchmannschaften befinden sich auf dem Weg, um diesem scheußlichen Lärm ein Ende zu bereiten, ein endgültiges.
Als dritten Stadtbild-Wimmel-Band könnte ich mir – wäre weniger aufwändig und in den Produktionskosten günstiger – Ramallah vorstellen – oder Kiew …
Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur
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