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Anna Lapwood beim 20. Internationalen Düsseldorfer Orgelfestival / Nick Rutter

Anna Lapwood

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Bechers Bilanz – August 2025: Zeit für eine Königin

Vorspann / Teaser

Während Salzburg und Bayreuth die alten Fragen in neuen Erzählungen für schlappe 300 bis 400 EUR Eintrittspreis durchkauen, harren in Köln 13.000 Besucher aus, um in ein gratis-Orgelkonzert eingelassen zu werden. Ein social-media-Phänomen, auch das. Aber könnte davon auch die Orgel profitieren, die „Königin der Instrumente“, die hausgroße Musikmaschine, bei der man seit Jahrhunderten auf einen unbewegten Prospekt aus Zinn und Holz starrt? Die das Entstehen des Klangs verbirgt und deren Spielerin uns den Rücken zukehrt?

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Orgelkonzerte in Köln, Pellworm und Reykjavík

Fortissimo mit Abbruchkante

Die Menschenschlange vom Kölner Dom bis zum Neumarkt am 15. Juli betrug 1,3 Kilometer. 17 Gehminuten, wenn man nicht eben in einer Schlange steht. Geschätzte 13.000 wollten dabei sein, als die britische Organistin Anna Lapwood Musik von Ludovico Einaudi, Hans Zimmer, John Williams und John Powell in einem Gratiskonzert der legendärsten Domkirche Deutschlands aufführte, zweimal 5.000 kamen in den Genuss (der Dom hat das Konzert auf Youtube veröffentlicht). Die Kirche bewarb das Konzert mit ein paar Zetteln, doch hunderttausende Follower von Lapwoods social-media-Kanälen sorgten für einen Hype, der weder vom Naserümpfen der Kunstrichter noch vom Jubel der Marketingstrategen hinreichend erfasst wird. Hingabe und Ernsthaftigkeit junger Musikerinnen und Musiker zahlt sich aus.

Wie angesagt ist die Orgel wirklich? Die sommerliche Zufallsexkursion führt mich am 23. Juli in die Alte Kirche St. Salvator auf der Nordseeinsel Pellworm. Hier spielt Fernando Swiech auf der 1710/11 erbauten Arp-Schnitger-Orgel. Das Instrument hat im Lauf der Zeit eine Schärfe entwickelt, die inzwischen das kleine, auf das frühe Mittelalter zurückgehende Gotteshaus zerschneidet. Das barocke Programm des in der Friedenskirche von Hamburg Altona wirkenden Organisten lädt nicht zur Kontemplation in nachhallgesättigter Akustik, sondern bohrt jede einzelne kontrapunktische Schlinge in die Ohren der gut 60 Zuhörer.

Wie anders klingt eine moderne Klais-Orgel! Zum Beispiel die im WDR-Funkhaus, die der Bonner Orgelmeister gerade frisch restauriert hat und die nun mit differenziertem und in jedem Ton perfekt ausbalanciertem Klangbild wie neu geboren erstrahlt. Am 31. August improvisieren hier im Rahmen der Cologne Jazzweek Emily Wittbrodt und Annie Bloch über Mendelssohns Präludium und Fuge op. 37/1. Während ohne Unterlass Dreiklangsbrechungen die Tonleiter hinabklettern, schweifen meine Gedanken zur majestätischen Klais-Orgel in der Hallgrímskirkju in Reykjavík. Am 17. August präsentiert Johann Vexo ein französisches Programm, für das das Instrument hervorragend aufgelegt ist, inklusive einer stattlichen Anzahl „Spanischer Trompeten“, mit denen der in Nancy spielende Organist ein Triptychon von Jehan Alain eröffnet – bevor er die erlesensten Kombinationen mixt. Die knapp 200 Zuhörer erleben bei Alain, Charles-Marie Widor und Gaston Litaize einen Querschnitt all dessen, was an diesem Instrument so bezaubert: tonloses Flüstern über stampfenden Bässen, trollhaftes Gemecker zwischen satten Akkorden, raumgreifendes Fortissimo mit Abbruchkante. Leider keine Menschenschlange von der Anhöhe des betongrauen Kirchendreiecks zur Holzhütte, die der Isländische Humor „Dom“ nennt (1km, 12min). Das Konzert hätte sie verdient gehabt.

Köln: Saisoneröffnung mit dem Concertgebouw Orkest

Blindes Einverständnis

Mutig startet die Kölner Philharmonie die neue Saison bereits am letzten Freitag der regulären Schulferien, am 22. August. Der Saal ist trotzdem ausverkauft. Zum einen locken das Concertgebouw Orkest unter seinem designierten Chefdirigenten Klaus Mäkelä. Man könnte sich abarbeiten an einer routiniert abgespulten „Pariser“ Symphonie von Mozart als Einspielstück, aber wann hören wir Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ jemals mit einer solchen Glut, Dringlichkeit, Schönheit und Genauigkeit? Schon jetzt, zwei Jahre vor Mäkeläs regulärem Antritt in Amsterdam herrscht blindes Einverständnis zwischen den Niederländern und dem Finnen. Ihr Bartók mischt jede einzelne Orchesterfarbe mit größter Sorgfalt ab, blitzschnell schalten sie zwischen der Schostakowitsch-Persiflage und dem verschatteten Sehnsuchtslied aus der Puszta um, und doch nimmt Mäkelä die Abbrüche der Musik ernst. Sein Bartók klingt so kantig, wie es die Exilsituation verlangt, in der das Stück entstand, ohne eine einzige der verführerischen Orchesterfarben einzutrüben. In Sergej Prokofjews 1. Violinkonzert entscheidet sich Mäkelä für eine stechend genaue Rhythmik. Im Umfeld der Oktoberrevolution geschrieben, verfolgt das Werk noch die freche Ansage des Bürgerschrecks. Janine Jansen fegt über die Saiten, es scheint, als erhielte jede Sechzehntel noch einen zusätzlichen Akzent. Im Vorjahr erschien die Aufnahme des Werkes, die sie mit Mäkelä eingespielt hat – eine Bereicherung des Repertoires. Jubel im Publikum.

Der zweite Grund für’s ausverkaufte Haus besteht in der neuen Intendantin Ewa Bogusz-Moore. Oberbürgermeisterin Henriette Reker begrüßt auf offener Bühne. Die richtigen Worte beim Empfang danach findet allerdings der Vorsitzende des Kuratoriums, Detlef Grimm. In Köln verspricht man Bogusz-Moore volle Unterstützung auch für neue Wege. Und über das von der Stadt zur Hölle geschickte Festival „Acht Brücken“ sei das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Köln: Jazzweek Cologne

Schmidts Katze

Eine Bigband mit zehn Bläsern ist nichts Ungewöhnliches, aber was der Norweger Gard Nilssen für sein Supersonic Orchestra zusammentrommelt, sprengt die Erwartungen: Den sechs Saxofonen, zwei Trompeten und zwei Posaunen heizen drei Drumsets mit drei Kontrabässen ein. Am Nachmittag des 31. August hat die belgische Schlagzeugerin und Sängerin Karen Willems im Stadtgarten noch ihre schamanenhaften Musikgrüße aus einer alptraumhaften Parallelwelt geschickt, hypnotisch, aber roh bis zum Unraffinierten. Am Abend regieren im WDR-Funkhaus geballte Energie und unbändige Spielfreude. Schlagzeuger und Kontrabässe trippeln nicht einfach nur ihre Kräfte, sondern vernetzen sich zu einem Gewebe, das zittert und zappelt und doch den Puls nie verwischt. Begeistert mischen die zehn Bläser Percussion-Instrumenten hinzu, wenn sie nicht gerade funkige Themen raushauen. Soli und Ensembles ziehen majestätische Bahnen, weniger auf Virtuosität, denn auf Farbe setzend. So ein Doppelsolo von Bass- und Kontrabassklarinette hört man selten, und der Gesang der Saxofonistin Sissel Pettersen vereint Vielfalt, Wild- und Schönheit wie der von Meredith Monk. In nicht einmal einer Stunde geht das Supersonic Orchestra ab wie das sprichwörtliche Haustier des verstorbenen Altkanzlers.

CD: Orchestermusik von Elsa Barraine

Trauma des Zweiten Weltkriegs

Nach der Einspielung des orchestralen Gesamtwerkes der polnischen Komponistin Grażyna Bacewicz für cpo legt das WDR Sinfonieorchester nun nach und veröffentlicht vier Kompositionen der 1910 in Paris geborenen Elsa Barraine. Nach frühen Erfolgen – mit 17 wurde sie Schülerin von Paul Dukas, mit 19 gewann sie den Rom-Preis mit einer Kantate über Jeanne d’Arc – brach der Nationalsozialismus über Europa ein. Schon der italienische Faschismus hatten die aus einer jüdischen Familie stammende Barraine in die Kommunistische Partei Frankreichs eintreten lassen, danach wurde es zusehends schwierig, ein normales Leben in Paris zu führen. 1944 tauchte sie unter und überlebte so die letzten Monate der Schreckensherrschaft. Nach dem Krieg wurde sie Professorin am Conservatoire und komponierte nun auch für die französische Filmindustrie. Hochbetagt starb sie 1999 in Straßburg.

Die Dirigentin Elena Schwarz legt dem WDR Sinfonieorchester vier Partituren auf die Pulte, darunter die beiden ersten Symphonien sowie – als einziges Werk der Nachkriegszeit – ein Tombeau mit Soloklavier. In ihrer Musik hallt die Gefahr des aufziehenden Faschismus ebenso wider wie ihr politisches Engagement. Die zweite Symphonie (1938) nimmt Ausgang vom tänzerischen Tonfall der 20er-Jahre, der wie in einem Bild von George Grosz ins Fratzenhafte umschlagen kann. Aber weil Barraine Französin ist, wird es nie schwer, das Blech trumpft selten auf. Zudem sind beide Symphonien dreisätzig, orientieren sich also auch formal eher an der Vorklassik.

Bei der „Musique funebre“ von 1953 stockt einem der Atem: Eine Passacaglia im Klavier, Trauermusik im Orchester, alles schmerzhaft, aber ruhig. Plötzlich schrillt der Einsatz der Kleinen Trommel mit ihrem Militärsound im Ohr. Das Trauma des Zweiten Weltkriegs hallt unbeschönigt nach. Hoffentlich nimmt das Orchester die Musik von Elsa Barraine nun auch mit in seine Abonnementkonzerte.