Das Jahr endet in Köln mit Gioachino Rossinis Märchenoper „La Cenerentola“ so, wie sich viele den Ausgang 2025 wünschen: vergnügt tänzelnd, gütig vergebend, in die Arme des oder der Richtigen sinkend. Eskapismus kann auch Atempause bedeuten, Sammlung und Stärkung; wer ihn nur als Fluchtimpuls schmäht, hört auch an Rossini vorbei. Der vibrierende Puls seiner Musik kann uns wieder aufmöbeln. Und sei es zunächst nur, um Moskau und Washington die Zunge herauszustrecken. Oder gleich dem ganzen Jahr.
Herrenchor der Oper Köln, Tänzer, Omar Montanari © Matthias Jung 2022
Bechers Bilanz – Dezember 2025: Die Zunge herausstrecken
Köln: „La Cenerentola“
Im Feuer der Koloraturen
Das Märchen „Cendrillon“ von Charles Perrault („Aschenputtel“ bei den Grimms) verwandeln Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti in ein wortreiches Rührstück. Die Sechzehntelgirlanden der Sängerinnen und Sänger markieren Tempo auch dort, wo sich die Oper zieht. In der Neuproduktion der Kölner Oper übersetzen Regisseurin Cecilia Ligorio und ihre Choreografin Daisy Ransom Phillips dieses Tempo mit unablässiger Bewegung auf der überaus aufgeräumten Bühne. Es wuselt um des Gewusels willen, die Tänzer (im doppelten Sinne:) fegen übers Parkett oder lassen Gesangspodeste kreisen. Im Wohnzimmer von Don Magnifico hängen Fotografien von Gene Kelly und Fred Astaire, also orientieren sich auch die Kostüme an den 1940er-Jahren.
Adriana Bastidas-Gamboa, Christoph Seidl © Matthias Jung 2022
Am Pult steht Matteo Beltrami, ein Meisterinterpret der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts: Er stützt sein Ensemble, dirigiert zügig, ohne je zu eilen, stuft die Dynamik der Details liebevoll ab und bleibt mit dem Gürzenich-Orchester und den Herren des Opernchors auf einer Wellenlänge. Die Präzision des von Bang-In Jung geleiteten Chores an diesem 27. Dezember ist fantastisch. In den Rezitativen (Theresia Renelt am Hammerflügel) spielt man Theater wundervoll befreit von Melos und Takt. Die Kölner Oper kann es sich leisten, fast alle Sängerinnen und Sänger aus dem Haus zu besetzen und sie in das Feuer der aberwitzigen Koloraturen zu werfen: Adriana Bastidas-Gamboa beginnt als glühende, eher schwere Angelina, singt aber ihre finale Bravournummer mit einer derart zarten Beseeltheit, dass ihr das Publikum zujubelt. Unter den Männern ragt Wolfgang Stefan Schwaiger als Dandini mit federndem und agilem Bariton heraus, der sich auch in der Rossini feindlich gesonnenen Akustik des Staatenhauses durchsetzen kann. Der einzige Gast an diesem Abend, Omar Montanari als Don Magnifico, erfreut als virtuos plappernder Rossini-Bariton, wie man ihn selten zu hören bekommt. Die Kölner „Cenerentola“ grübelt nicht über das Sozialdrama, dass hinter dem Märchen lauert; sie feiert die Perfektion der Technik. Daraus ließe sich ein guter Vorsatz für 2026 ableiten.
Hamburg: „Die Zauberflöte“
Inszenierung für Eingeweihte
Im Gegensatz dazu zeigt mir eine „Zauberflöte“ an der Hamburgischen Staatsoper, wie die Regisseurin eine Oper okkupiert. Nach der historischen Inszenierung von Achim Freyer, nachgespielt auf der ganzen Welt, kreierte Jette Steckel 2016 eine neue „Zauberflöte“, deren Lebenszyklus nun erlischt. Man muss dieser Inszenierung keine Träne nachweinen. Steckels „Zauberflöte“ lebt von einer bestechenden Idee: Tamino, Pamina und Papageno altern im Laufe des Stückes. Erst vor der Feuer- und Wasserprobe umarmen sich die mittlerweile ergrauten Liebenden. So viel Zuneigung wie hier schenkt Steckel ihren Figuren aber kein zweites Mal. Die Dialoge fallen vollständig unter den Tisch – weil sie im Wege sind, nicht weil sie nicht mehr tragbar wären. Also folgt die „Bildnisarie“ unmittelbar auf Papagenos Auftrittsarie, ohne dass jemand mit Tamino zuvor gesprochen hätte. Eine Inszenierung für Opernkenner, mithin für Eingeweihte: ist möglich, aber verschenkt. Allein die Wirkung des Bühnenbilds verblüfft noch immer. Auf einem Dutzend Perlenvorhängen hintereinander kann Alexander Bunge nicht nur Videos projizieren – etwa die Gesichter der aus dem Graben singenden Antagonisten Sarastro und Königin der Nacht –, sondern diese auch in der Tiefe staffeln.
Die Zauberflöte an der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Arno Declair.
Die musikalische Darstellung am 15. Dezember punktet durch Schnelligkeit. Die junge Dirigentin Keren Kagarlitsky, Kapellmeisterin an der Volksoper Wien, treibt das Staatsorchester durch den Abend und gewinnt dabei Leichtigkeit. Ensemblemitglied Dovlet Nurgeldiyev als Tamino mit italienischen Schluchzern ist stilistisch fehl am Platz, aber rührt zu Tränen. Diana Schnürpel als Königin der Nacht setzt noch ein paar Spitzentöne drauf und serviert ihre Arien muskulös, geradezu trotzig. Und Peter Galliard präsentiert seinen Monostatos – mit Whitefacing an Mefistofeles aus Gustav Gründgens legendärem Hamburger „Faust“ angelehnt – ohne schlechtes Gewissen.
Köln: Asasello-Quartett
Das traurigste Scherzo aller Zeiten
Der Komponistin Maria Herz (1878–1960) widmete das Asasello-Quartett bereits vor zwei Jahren eine CD. Darauf befindet sich auch ihr Streichquartett h-Moll op. 6, geschrieben noch bevor die Kölnerin vor den Nationalsozialisten nach England fliehen musste, wo sie zu komponieren aufhörte. Das Quartett steht in der Tradition des kontrapunktisch durchgearbeiteten vierstimmigen Satzes, wie ihn Beethoven und Schönberg, Brahms und Bartók etablierten. Die profilierten Motive schlängeln sich unablässig durch die vier Streicher, und während die einen noch imitieren, entwickeln die anderen bereits Neues. Herz‘ kluge Musik vereint Eleganz mit Sinnlichkeit und Emotion. Das Asasello-Quartett kombiniert ihr op. 6 in der eigenen Reihe im Sancta Clara Keller mit Franz Schuberts „Rosamunde“-Quartett. Das Ensemble – Rotislav Kozhevnikov, derzeit Hannah Weirich, Justyna Sliwa und Teemu Myöhänen – fühlt sich im Schatten wohler als im Licht, sein Brio wirkt schnell scharf, ein Andante immer melancholisch. Das passt auf Schubert, auf seine verlöschende Durchführung im Kopfsatz und auf das traurigste Scherzo aller Zeiten.
Ihr Saison-Abschlusskonzert am 5. Dezember eröffnen die Asasellos mit Peter Jakobers Streichquartett ganz im Dunkeln. Die vier Streicher verteilen sich, schnell füllt den Keller eine hochenergetische Musik. Diese aber tritt 30 Minuten auf der Stelle. Jakober gewinnt seiner eindrücklichen Musiziersituation kaum mehr als ein sich minimalistisch verschiebendes Tremolo ab. Wie gut, dass anschließend die Motive von Maria Herz auf die Reise gehen.
Köln: Tonedmelisma Musikfestival von Ataç Sezer
Aufwachen aus der New-Classic-Schläfrigkeit
Der Komponist Ataç Sezer studierte, laut seiner Biografie, u. a. bei Dieter Schnebel, Matthias Pintscher und Mark André. Musikalisch entscheidet er sich allerdings für einen Koordinatenpunkt in weitestmöglicher Entfernung der Genannten. Er setzt auf Dialog zwischen Orient und Okzident, was sich aufregender liest als es sich am Ende anhört, wenn in „Spectral Horizons: Refractions for Cello and Ensemble“ lediglich schmeichlerische Versatzstücke der beiden Welten ausgestellt werden – ohne jede Differenzierung im Instrumentalensemble. Im Rahmen der von Sezer gegründeten Konzertreihe „Tonedmelisma“ wurden das E-MEX Ensemble unter seinem Leiter Christoph Maria Wagner sowie Benedict Kloeckner als Cellosolist für ein Konzert am 6. Dezember im Wallraf-Richartz-Museum gewonnen. Das Programm schwankt zwischen Minimal und New Classic. Damit erreicht Sezer ein Publikum, das bunter und vielleicht auch neugieriger ist als sonst in der Neuen Musik üblich. Hoffentlich inspirieren sich die Zuhörerinnen und Zuhörer an dem aufgerauten Zungenschlag von Christopher Cerrone, der die minimal music gegen den Strich bürstet, oder an den faszinierenden Klängen, die Max Grafe in seinem Werk „Janus Ponders the Cosmos“ hervorholt. Das signalhafte Klirren (gemischt aus Geige, Crotales, Harfe und Klavier), mit dem das Werk anhebt, weckt das Publikum aus der wohligen Schläfrigkeit der vorangegangenen Septnonenakkorde.
Köln: Lesung von Tanja Maljartschuk
Fröhlicher Pessimismus
In der ersten Dezemberwoche besucht Tanja Maljartschuk als TransLit-Poetikdozentin Köln. Die ukrainische Schriftstellerin lebt seit 2011 in Wien. Der russische Angriffskrieg beeinträchtigte auch ihr Schreiben: Die literarische Arbeit – für die sie 2018 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde – wich politischen Essays. Inzwischen tastet sich Maljartschuk wieder an die Prosa heran. Für ihre Lesung am 3. Dezember im voll besetzten Literaturhaus Köln wählt sie biografisch gefärbte Texte, auch unveröffentlichte. Moderator Antonius Weixler, Germanist an der Bergischen Universität Wuppertal, lässt der Schriftstellerin breiten Raum, zumal seine zaghaften Versuche, die Gesprächspartnerin in einen meta-literarischen Diskurs zu locken, an ihr abprallen.
Maljartschuk bezeichnet sich als Pessimistin: Der Krieg tötet Menschen, Sprache, Charakter, Zusammenhalt; Heimat liegt dort, wo die Traumata wurzeln. Gleichzeitig entdeckt sie in der hässlichen Gewalt auch immer die Groteske und damit das Komische. Bei der Erinnerung an einen Obdachlosen, der der Straßenbahnkontrolle durch eine absurde Ausrede zu entkommen trachtet, schüttelt sie sich vor Lachen. Selten paart sich authentischer Pessimismus mit solcher Fröhlichkeit. Auch dies eine Anregung für 2026.
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