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eXoplanet: Industrial Mechthild - Tanya Strohal, Ensemble. © NilzBöhme

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Neues Musiktheater an urbanen Orten

Untertitel
Das Festival eXoplanet in Magdeburg
Vorspann / Teaser

Bei eXoplanet #1 standen vom 9. bis 11. Mai die Kammeroper „Penelope“ von Sarah Kirkland Snider in der Kammer 2 des Schauspielhauses und vor allem die Uraufführung einer Neuvertonung von Oscar Wildes „Salome“ durch Gerald Barry auf dem Spielplan. Beide Eigenproduktionen der Oper Magdeburg hatten bereits im März 2025 Premiere. Aber das Theater und dessen Generalintendant Julien Chavaz setzten zum Stapellauf der ersten Tage für neues Musiktheater Sachsen-Anhalt andere, wesentliche Prioritäten.


 

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Im Bundesland Sachsen-Anhalt mit dem Motto #moderndenken gibt es nur wenige Fachnischen für Neue Musik und Neues Musiktheater. Von 2016 bis 2020 präsentierte Florian Lutz als Intendant der Oper Halle jede Spielzeit eine Uraufführung im großen Haus und erzeugte damit intern wie in der Politik Unwillen. Das Festival Klang­ART Vision findet mit verschiedenen Ensembles und Konzertformaten an mehreren Orten statt, das Impuls Festival für Neue Musik brachte nur ausnahmsweise Musiktheater und das Magdeburger Festival SinusTon setzt vor allem elektroakustische Akzente. Die großen Klassikfestivals Sachsen-Anhalts widmen sich den Barockkomponisten Händel, Schütz und Telemann. Zeitgenössisches hat dort so gut wie keinen Platz. Chavaz füllt mit seiner Vision nun diese Lücke.

 

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Der Schweizer akzentuiert seine Leidenschaft für Neuschöpfungen mit dem Wunsch nach Publikumsnähe. Chavaz hatte als Leiter der Neuen Oper Fribourg und Regisseur Leidenschaft für innovative Projekte entwickelt. Nun geht es ihm vor allem um die kreative Verdichtung zwischen freier Szene und dem Theater Magdeburg. Deshalb regte er die Ausschreibung zur Gestaltung einer Uraufführung an. Zehn der insgesamt fünfzig Bewerbungen erfolgten aus Sachsen-Anhalt. Produktionsleiterin des ersten Festivals war Marie Schultze, die am Theater Magdeburg seit zehn Jahren als Intendanz-Referentin im Amt ist. Die Berlinerin brachte für das Projekt unverzichtbare lokale Ortskenntnisse mit, über die der Generalintendant nach nur zwei Jahren noch nicht verfügt. Schließlich zielt das Fes­tival neben dem Stamm- und Fachpublikum auch auf die Sichtbarkeit und Sichtbarmachung des Theaters im Stadtraum. In Magdeburg mit knapp 250.000 Einwohner:innen gibt es auf Parkanlagen, leerstehenden und ungenutzten Arealen viele freie Flächen, zumeist Reste von Industrieanlagen und Kriegszerstörungen. 70.000 Euro standen für acht Veranstaltungen an fünf Spielstätten außerhalb der Theaterräume zur Verfügung, die beiden Opernproduktionen hatten eigene Etats. Die während der Pandemie als mobile Produktion konzipierte Freiluft-Operette „Tutti in campagna“ des Berliner Kollektivs tutti d*amore gelangte im Klos­terbergegarten und in der als Eventlocation beliebten Schweizer Milchkuranstalt am Dom zur Aufführung. Unter dem Festivalmotto „Hysterie in der Peripherie“ ging es um Ja oder Nein zum Urlaubsziel im Süden. In Anke Retzlaffs bei Theater der Welt 2021 erstmals gegebener „Dream Machine“ wurden während und nach der Pandemie gesammelte Menschenstimmen mit Stimmen des Live-Publikums aus einer Telefonzelle verbunden. Die Performance zu Texten von Matin Soofipour Omam war ein musikalisches Gemeinschaftserlebnis aus „kontaktlosen Verbindungen“ und gastierte im Kunstmuseum Kloster Unserer Lieben Frau.

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Ein Alleinstellungsmerkmal von eXoplanet #1 sind zwei auf den Magdeburger Unternehmer Hermann Gruson zurückgehende Locations. Eine virtuose Hommage des Avantgarde-Tenors Timur für den 1983 verstorbenen Popsänger Klaus Nomi „Klaus from Space“ fand ihren ebenso angemessen exklusiven wie außergewöhnlichen Aufführungsort in den für vielfältige Veranstaltungen genutzten Gruson-Gewächshäusern am Klosterbergegarten. Hermann Gruson war der Gründer einer der bedeutendsten Großfabriken für Maschinenbau und Rüstungsindustrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis zu 30.000 Menschen arbeiteten vor der Wende in dem 1969 zum VEB Schwermaschinen-Kombinat „Ernst Thälmann“ (SKET) umstrukturierten Grusonwerk. Von dem imposanten Gelände mit einer Fläche von 30 Hektar vor einem inhomogenen Stadtpanorama wurde bei der Uraufführung der Konzert-Installation „Industrial Mechthild“ ungefähr ein Drittel der Fläche bespielt.

Für die Realisierung, künstlerische Leitung, besonderen Aufwand und Honorar ihres von der vierköpfigen Jury ausgewählten Konzepts erhielten Lisa Pottstock und Kris Kuldkepp 10.000 Euro. Eigens ließen sie mit einem elektronischen Verstärkungssystem verknüpfte Donnerbleche anfertigen. Ein Bürger:innenchor bildete in einfachen Uniform-Kostümen das Ensemble, dem das Publikum über das SKET-Gelände folgte. Die maximal fünfzig Teilnehmenden hatten auf der Fläche und in den Industrieruinen eine Stunde lang für die verschiedenen Stationen der Installation beträchtliche Entfernungen zurückzulegen. Dafür waren vier Servicepersonen im Einsatz. Es lag am künstlerischen Konzept und an der imposanten Aura des Veranstaltungsortes, dass die in Gesängen und Texten aufgerissenen Bezüge zu der mittelalterlichen Magdeburger Mystikerin Mechthild weniger vordringlich wurden als die Erkundung des Ortes.

Am Festivalwochenende wurde mit insgesamt 658 Menschen eine Auslas­tung der Vorstellungen von 95,4 Prozent errechnet. Der Anfang ist also gemacht. Bei eXoplanet #1 ging es nicht nur um die Propagierung von Neuem Musiktheater in seiner „ganzen Vielfalt“, sondern um die Eroberung städtischer Räume, die dem überregionalen und oft sogar einheimischen Publikum unbekannt sind. Nach diesem Debüt offenbart sich in Magdeburg und Umkreis – anders als in vielen Städten mit urbaner Verdichtung – die Chance, neues Musiktheater gezielt als Motor für Spurensuche, Belebung und kreative Mobilisierung einzusetzen. Die erste Ausgabe zeigte, wie man mit Ambition und Spannung die atmosphärischen Brüche der Stadt thematisieren und daraus ein anspruchsvolles Event kreieren kann.

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