„Welch ein Genuss!“ jauchzte das Motto zur 27. Ausgabe von Güldener Herbst. Festival Alter Musik in Meiningen. Zehn Veranstaltungen in drei Tagen, vier davon unter Mitwirkung der künstlerischen Leiterin Alice Lackner, die für 2026 in Gotha „Heimatklänge“ ankündigt. Nach Domenico Sarros Opera seria „Didone abbandonata“ (1724) im Staatstheater Meiningen folgte am Sonntagabend die gefeierte Wiederentdeckung des Oratoriums „La Colpa Originale“ (Die Erbsünde, 1718) des Wiener Hofkomponisten Bartolomeo Conti. Dorothee Oberlingers Ensemble 1700 wiederholte in der Stadtkirche St. Marien mit einem hochkarätigen Ensemble das Eröffnungskonzert des Festival Alte Musik Knechtsteden. Beide Entdeckungen gelangen überaus lebendig, inspirierend, virtuos – mit Tiefgang und besten Aussichten auf weitere Produktionen.

La Colpa Originale in Meinigen. Foto: Guido Werner
Schuld, Sühne, Sinnenkitzel: Bartolomeo Contis Oratorium „La Colpa Originale“ beim Festival Güldener Herbst in Meiningen
In Pietro Pariatis Libretto droht Gottvater dem ersten Menschenpaar nach Vollzug der „Erbsünde“ durch Verzehr einer verbotenen Frucht mit lakonischer Drastik: Gehorsam oder Strafe. In Bartolomeo Contis Oratorium für Wien unter Kaiser Leopold I. singt der Herr Tenor. Er erhält wie die anderen vier Solisten ordentlichen und überraschungsreich komponierten Belcanto-Sprit. David Tricou steht da mit Goldweste und strengem Charme. Er setzt auf Autorität und Charisma, stimmlich auf exakte Bravour und heroischen Aplomb. Auch Lucifero ist mit Stimme und Gestalt des Bassisten Luigi De Donato ein steiler Feger, dem mit der Verbannung von Adamo und Eva aus dem Paradies der eigene Höllensturz gar nicht mehr so schlimm vorkommt. Über zwei Stunden dauert Contis Opus und ist dabei keine Sekunde zu lang.
Mit jesuitischer Theaterlust und kreativem Eigensinn hatte Pariati die alttestamentarische Quelle aus Genesis 2 bis 4 als Beitrag zur noch jungen Gattung des sakralen Handlungsoratoriums aufgemöbelt. Höhepunkt eins ist die umfangreiche Sequenz, in welcher Lucifero der von Jiayu Jin mit liebenswerter Lüsternheit und Ironie-Funken charakterisierten Eva zum verbotenen Apfel lockt. Eva und der Countertenor Timothy Morgan als unaufgeregt brillanter Adamo exerzieren das Schuldzuweisungspingpong über Verzehr und Anstiftung in Fallhöhe zwischen Moraldiskurs und Lamento durch. Das tönt dann schon fast wie Ehegeplänkel im bürgerlichen Boulevardtheater.
Zweifellos ist das italienische Oratorium in Wien von Caldara über Fux bis Conti in Glanzmomenten mindestens genauso unterhaltsam und kurzweilig wie erbaulich, wenn man dezent nachhilft. Da wirken denn die Auftritte des von der Mezzosopranistin Alice Lackner mit mildem Druck durchsetzten Sopranhöhen als Cherubim wie Inseln eines Plots, bei dem nur die Jungfrau Maria retten kann. Nils Niemann stellte eine grüne Baumattrappe mitsamt feurig züngelnder Riesenschlange und ironisch roten Apfelkugeln auf den Altar. Unter seiner Anleitung findet das Ensemble ein differenziertes Spektrum für Noten und Ausdruck – Barock burlesk und trotzdem ernst. Sogar todernst aus Perspektive katholischer Konservativer und der Generation GenZ: Denn Lucifero hält das frauliche Geschlecht bei Pariati in Sachen Verführungsgewalt weitaus effizienter als sich selbst.
In dieser Wiederholung des Eröffnungskonzerts für Festival Alte Musik Knechtsteden koordiniert und beflügelt Dorothee Oberlinger mit Ensemble 1700 nach zahlreichen Entdeckungen erneut energisch, empathisch und sympathetisch. Auch diesmal fragt man sich bei ihrer musikalischen Leitung, warum derart im besten Sinn unterhaltsame Werke so lang vergessen waren. Auf alle Fälle gelingt Oberlinger immer, das dramatische, formale und ornamentale Ariengeschehen in Spannung zu halten und mit den Musiker:innen zu interagieren. Ensemble 1700 akzentuiert auf hohem Qualitätslevel. Koloraturen sind motiviert, Sinn und Form durch musikalische Pointierung genau auf dem Punkt. Berückend gelingen Contis melancholische Stellen, deren Klanggesten bis Pergolesis „Stabat mater“ nachwirken.
Aber was haben diese italienischen Werke mit Thüringen zu tun? Jetzt endlich wird die im Auftrag von Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen in Wien um 1730 angeregte und seither in der Meininger Schlossbibliothek angeregte Sammlung von Musikmaterial erschlossen. Das darin enthaltene Konvolut von 100 Libretti ging 1946 als russisches Kriegsgut verloren. Lawrence Bennett kommt ins seinem Basisessay auf 107 Manuskript-Einheiten mit insgesamt 279 sakralen und weltlichen Werken aus den Jahren bis 1741. Oratorien und Opern aus den Wiener Notenimporten konnten in Meiningen aufgrund knappen Personalstands allerdings lange nicht aufgeführt werden. Unter dem das Schauspiel favorisierenden ‚Theaterherzog‘ Georg II. (1826 bis 1914) nahm man von dem wertvollen Bestand zwar Kenntnis, hielt ihn allerdings für Aufführungen unzeitgemäß. Sämtliche Meininger Musikhandschriften werden derzeit im Répertoire International des Sources Musicales (RISM) erfasst.
Das Staatstheater Meiningen und Güldener Herbst 2025 brachten mit „Didone abbandonata“ und „La Colpa Originale“ gleich zwei Werke, welche einen aufrüttelnden Eindruck von der Vielgestalt und Originalität des Schaffens neben den bisher als Leuchttürmen betrachteten Komponierenden geben. Das Festival-Motto „Welch ein Genuss!“ war entweder euphemistisch oder ironisch. Denn in „Didone abbandonata“ wie in „La Colpa Originale“ geht es um die wenig erbaulichen Konsequenzen einer eher fragwürdigen Genussfreude – mit Schuld, Strafe, Tod und Plage. Eine solche Dialektik beflügelt hörbar. - Die nächste Oratorien-Entdeckung gibt es bereits kommende Woche: Am 4. Oktober erklingt in der Franziskanerbasilika Ingolstadt mit Concerto de Bassus unter Franz Hauk „San Francesco“ des 60 Jahre an der Basilika San Petronio in Bologna wirkenden Giacomo Antonio Perti (1661 bis 1756).
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!