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Ambiente einer Séance: Das Ensemble Reflector spielt Arnold Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ mit einer behutsam ergänzten Partie für den Gambisten Liam Byrne. Foto: Johannes Berger

Ambiente einer Séance: Das Ensemble Reflector spielt Arnold Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ mit einer behutsam ergänzten Partie für den Gambisten Liam Byrne. Foto: Johannes Berger

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Spannungsbogen über elf Tage

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Podium Esslingen als Paradebeispiel für ein progressives Klassik-Festival
Vorspann / Teaser

Unter dem Motto „Trotz und Träume“ fanden 23 Konzerte in elf Tagen an 19 Spielstätten statt. Mit ausgefeilten Beleuchtungskonzepten und Nebelmaschinen treibt das Podium Esslingen seinem Veranstaltungsreigen jeglichen elitären Anstrich aus und lässt keine Zweifel an der progressiven Haltung des Klassik-Festivals aufkommen.

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Was andernorts lediglich behauptet wird, setzt das Podium Esslingen kurzerhand in künstlerische Praxis und kreative Tat um. Vieles an diesem Klassik-Festival ist anders als bei herkömmlichen Veranstaltungsreihen dieser Art. Das fängt bei den innovativen Konzertformaten an: Jede der bespielten Locations wird aufwändig szenografisch inszeniert und „gestimmt“, oft spiegelt der Spielplan den Genius Loci des Ortes wider.

Auch die programmatischen Setzungen sind dezidiert progressiv und auf gesellschaftspolitisch relevante Denkanstöße bedacht: Wenn wie im Eröffnungskonzert „Befreiung!“ am 8. Mai (!) Beethovens 9. Sinfonie, geleitet von der israelischen Dirigentin Bar Avni, die im vergangenen Jahr den Dirigentinnen-Wettbewerb „La Maestra“ für sich entscheiden konnte, mit der „Frequenz Ludwig“ der chinesischen Komponistin Ying Wang anstelle des Chorfinales über Schillers „Ode an die Freude“ ausklingt, oder im Abschlusskonzert Louis Andriessens Minimal-Music-Ikone „De Staat“ (1976) auf die Uraufführung „GOSCH 2057“ aus der Feder der jungen US-amerikanischen Komponistin Zar Ali trifft, geht es immer darum, den etablierten Kanon mit seinen blinden Flecken zu konfrontieren und im zeitgenössischen Kontext zu hinterfragen. Auch das diesjährige Festivalmotto „Trotz und Träume“ bringt den Utopie und Widerspruch verschränkenden Anspruch zum Ausdruck.

Locker 1.200 Jahre überstreicht der Programmbogen im „Spätwerk“, das an Tag zwei in die Esslinger Frauenkirche lockt: Erklingen zum Auftakt zwei kontemplative Hymnen der byzantinischen Äbtissin und Komponistin Kassia (um 810-865) im Rücken des Publikums von der Orgelempore aus – Schlagwerker Paul Ebert zaubert „The Fallen Woman“ und „Augustus, the Monarch“ als Klangskulpturen auf Vibrafon und Stabspiel, unterlegt von einem dunklen Bordunton (Kontrabass: Anna Stelzner), in den spätgotischen Kirchenraum des dreischiffigen Gotteshauses –, gestaltet Tommaso Gasparoni Thea Musgraves Oboensolo „Dust“ (2012) im Mittelgang.

Die Szene ist in unwirkliches Ultraviolett und gelboranges Streiflicht getaucht, dichte Rauchschwaden steigen aus der holzgeschnitzten Kanzel auf: Mit ausgefeilten Beleuchtungskonzepten und Nebelmaschinen pustet das Podium jeglichen elitären Anstrich, der mit vergleichbar disponierten Festivals nicht selten einhergeht, entschlossen beiseite und stellt zugleich eine ästhetische Identität über dem Gesamtkonzept her. Die Wirkung ist unübersehbar, auch im Stadtbild: In der Innerstadt wimmelt es nur so von Instrumentenkoffer befördernden Menschen, die sich in den engen, mittelalterlichen Gässchen grüßen – kein Zweifel: In Esslingen herrscht echtes Festivalflair.

Passend zur Spielstätte auch hier der Spielplan: Ausschließlich Werke von Komponistinnen kommen in der Frauenkirche zu Gehör, so Kaija Saariahos „Ciel étoilé“ (1999) und Sophie-Carmen Eckhardt-Gramatté „Caprice 10: Klage“, dem der Geiger Joosten Ellée, seit Herbst 2021 künstlerischer Leiter des Podium-Festivals, von der Empore aus virtuos Gestalt verleiht. Instruktiv ineinander verschränkt finden sich die Sätze von Ruth Craw­ford Seegers „Suite for Wind Quintet“ (1952), eine Art Patrouillengang entlang der Innengrenze der Tonalität, und Louise Farrencs genau hundert Jahre älteres, mit kammermusikalischem Feinsinn ausgehörtes und in zarten Bläserklangfarben dargebotenes, hochromantisches „Sextett c-Moll“ (Op. 40) – auch diese Art der Programmgestaltung ist zum distinkten Markenzeichen der Esslinger Klassik-Innovatoren geworden.

Damit in unmittelbarem Zusammenhang steht die Dichte der Spannungsbogen: Stets folgt das Publikum gebannt den Darbietungen, selten unterbrechen Beifallsbekundungen die Aufführungen.

Das ist auch anschließend in der Franziskanerkirche so, als Arnold Schönbergs Streichsextett „Verklärte Nacht“ im Zentrum des Programms steht. Auf vier Seiten von Zuhörern umgeben, wirkt der Stuhlkreis inmitten des intimen, hochaufragenden Kirchenschiffs wie das Ambiente einer Séance – die rituelle Setzung einer spiritistischen Sitzung, bei der die Musikerinnen und Musiker vom Ensemble Reflektor erst nach und nach zum Gambenvirtuosen Liam Byrne hinzustoßen, für den behutsam eine Stimme hinzugedichtet wurde. Kontextualisiert, gerahmt und kontrastiert wird ihre hochspannende Interpretation von englischer Consort-Musik der Renaissance.

Zwei Tage später gehen Folklore unterschiedlicher Provenienz, Jazz, Klassik und Spoken Word Poetry nahtlos ineinander über in der Musik der iranisch-kanadischen Songwriterin Golnar Shahyar, die mit dem mehrfach preisgekrönten Vision String Quartet auftritt. Shahyar mischt Vierteltöne und Spaltklänge unter ihre mal englische, mal persische Lyrik, kommt vom Wort zum Scat zum Gesang. Gedichte verwandeln sich vor den Ohren der Besucher in Songs. Dass das poetische Weltmusik-Kammerkonzert zudem eine Weltpremiere war, erfährt man allenfalls beiläufig. Es stellt auch kaum eine Nachricht dar: Im Grunde ist nahezu jedes Podium-Konzert eine Uraufführung.

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