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Nach über zehn Jahren zurück aus Japan: Der aufblasbare Konzertsaal „Ark Nova“ ist wieder in Luzern. Foto: Anish Kapoor/Lucerne Festival

Nach über zehn Jahren zurück aus Japan: Der aufblasbare Konzertsaal „Ark Nova“ ist wieder in Luzern. Foto: Anish Kapoor/Lucerne Festival

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Wohin geht die Reise – und wie?

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Nach Michael Haefligers Abschied bricht das Lucerne Festival neu auf
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Es war, nach 26 Jahren, die letzte Ausgabe des Intendanten Michael Haefliger. Die Nachfolge tritt Sebastian Nordmann im Januar offiziell an. Welche Weichen wird der Neue stellen? Ein „Open End“, genauso wie das diesjährige Festival-Motto.

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Eine kraftvollere Festival-Eröffnung lässt sich nicht denken. Da präsentierte gleich zu Beginn Winnie Huang auf der großen KKL-Bühne mit „nexus of now“ eine experimentelle Performance, wie man es eigentlich im Rahmen der herbstlichen Reihe „Lucerne Festival Forward“ für zeitgenössische Musik erwarten würde, aber nicht als Auftakt des Luzerner Hochglanz-Sommers. Die Musikerin, gestische Performerin und Komponistin war in diesem Jahr „artiste étoile“ am Lucerne Festival.

Gleich danach würdigten Riccardo Chailly und sein Lucerne Festival Orchestra (LFO) mit „Mémorial (...explosante-fix...Originel)“ den 100. Geburtstag von Pierre Boulez. Der Mitbegründer und langjährige Leiter der Lucerne Festival Academy ist 2016 verstorben. Nach der Pause ging es mit der komplettierten Sinfonie Nr. 10 von Gustav Mahler weiter, und auch dieses abgründig verdüsterte Werk hatte nichts mit musikalischer Kulinarik gemein. Noch dazu war, nach krankheitsbedingt längerer Zeit, ein Chailly in Bestform zu erleben.

Mit dieser Eröffnung hat Noch-Intendant Michael Haefliger ein Ausrufezeichen gesetzt, stark und unüberhörbar. Nach 26 Jahren hört er auf, sein Nachfolger ist Sebastian Nordmann. Was ihm Haefliger mit auf den Weg gibt, das hat die Eröffnung ganz klar offenbart. Die Moderne und das Zeitgenössische ist nicht einfach hübsches Beiwerk, sondern steht absolut gleichberechtigt im Fokus. Gleichzeitig läuft der LFO-Vertrag von Chailly offiziell Ende 2026 aus, und auch hier steht noch nicht fest, wie es personell am LFO-Pult weitergeht.

Das Erbe Haefligers ist gewaltig. Man kennt Nordmann vom Konzerthaus Berlin und den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern, aber das lässt sich mit der einzigartigen Festival-Vision in Luzern nicht vergleichen. Ein Rückblick auf das Jahr 1999: Der damals 36-jährige Haefliger übernimmt die Intendanz der „Internationalen Musikfestwochen Luzern“. Schon ein Jahr später startet die Reihe mit neuem, griffigem Namen ins neue Jahrtausend. Es folgen weitere Neuerungen.

Statt ein bloßes Gastspiel-Festival zu sein, werden festivaleigene Initiativen entwickelt. Sie schaffen und schärfen eine ureigene Identität. Der Startschuss fällt 2003 mit dem LFO, für das Haefliger den Orchester-Pionier Claudio Abbado gewinnen kann. Bereits ein Jahr später startet die Lucerne Festival Academy mit dem Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez. Komponierende und Musikausübende werden in zeitgenössischer Musik geschult, darunter heute weltbekannte Persönlichkeiten und Ensembles. Unter Haefliger avanciert das Lucerne Festival zu einer starken Eigenmarke im Festivalmeer. Für die letzte Edition Haefligers wurde zudem die „Ark Nova“ nach Luzern zurückgeholt. Seit 2013 war dieser aufblasbare Konzertsaal in Japan unterwegs, um nach der furchtbaren ­Katastrophe von 2011 Trost und Hoffnung zu spenden.

Natürlich musste Haefliger auch Niederlagen einstecken. So wurde die „Salle Modulable“, ein multifunktionaler Spielort auch für experimentelles Musiktheater, nicht verwirklicht, tiefe Einschnitte zudem der Tod von Abbado 2014 und von Boulez 2016.

Beim LFO agiert seit 2016 Chailly als Nachfolger, die Akademie wurde bis zu dessen Tod 2024 von Wolfgang Rihm künstlerisch geleitet. Kühn Haefligers Neuausrichtung ab 2019: Die Oster- sowie die herbstliche Klavierreihe wurden aufgegeben, um die Eigenmarken zu schärfen. An Ostern dreht sich seither alles um das LFO, und das herbstliche „Forward“-Festival ist eine Plattform für das neue Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Die Fußstapfen, in die Nordmann 2026 tritt, sind also gewaltig groß.

Es stehen nicht zuletzt ganz zentrale Personalien an, eine hat sich inzwischen geklärt. Im Frühjahr wurde bekannt gegeben, dass Jörg Widmann als Nachfolger Rihms die künstlerische Leitung der Akademie übernimmt. Auf den ersten Blick wirkte diese Wahl etwas banal. Es mag kompositorisch interessantere Stimmen geben, übrigens gerade auch Frauen, die am Lucerne Festival schon als Residenz-Komponistinnen aktiv waren. Als ehemaliger Zögling von Rihm, der zudem als Klarinettist, Komponist und vermehrt auch als Dirigent ein ähnliches Multi-Profil aufweist wie einst Boulez, steht Widmann indes für eine grundsätzliche Kontinuität.

Widmann kommt gut an, ist populär und ein Kommunikator, und eine solche Ausstrahlung braucht die Luzerner Akademie. Gleichzeitig haben in diesem Jahr das Abschlusskonzert des von Dieter Ammann und Unsuk Chin geleiteten „Composer Seminar“ wie auch das Akademiekonzert „Hommage à Pierre Boulez“ gezeigt, wie sehr Widmanns Musik gerade für jüngere Generationen offenbar eine wichtige Inspiration ist. In den insgesamt zwölf neuen jungen Werken wurde mehrheitlich eine kompositorische Haltung gelebt, die Widmann einst als das Zusammenfügen oder Zusammensetzen von Disparatem bezeichnete.

Es waren überwiegend eher harte Brüche oder Zeichnungen von scharfen Konturen präsent, die die jungen Komponisten mit ungleichem Material entwarfen. Das erinnerte vielfach an Widmanns „Babylon“-Oper von 2012/19. Besonders auffällig war diese Haltung in Maya Miro Johnsons „Lynchiana“. In dieser Würdigung des Filmregisseurs David Lynch für großes Ensemble kommen auch Megaphon, Wasserkocher oder Plattenspieler zum Einsatz, allerdings bleiben sie betont Fremdkörper.

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Vom Berg in den „Ark Nova“: Souvenir de Rigi von Franz Doppler mit Reinhold Friedrich, Eriko Takezawa, Andrea Loetscher und Michael Haefliger an der Kuhglocke. Foto: Anish Kapoor/Lucerne Festival

Vom Berg in den „Ark Nova“: Souvenir de Rigi von Franz Doppler mit Reinhold Friedrich, Eriko Takezawa, Andrea Loetscher und Michael Haefliger an der Kuhglocke. Foto: Anish Kapoor/Lucerne Festival

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Ganz anders der diesjährige Residenz-Komponist Marco Stroppa: In seinem neuen Stück „far and wee“ wäre es fraglos spannend gewesen zu erleben, wie Stroppa das Verhältnis zwischen dem akustischen Akkordeon und der Kammerelektronik definiert. Dazu kam es nicht, weil nur die Elektronik rechtzeitig fertig wurde und nicht die Akkordeon-Stimme. Dafür aber wurde hörbar, wie sehr Stroppa nicht einfach Technik einsetzt, sondern in zwingende Poesie und Virtuosität überführt. Die elektronisch erzeugten Klanglichkeiten und Geräusche einten sich zu einem organischen Ganzen, blieben also nicht disparat.

Von den zwölf jungen Beiträgen agierte vor allem Piyawat Louilarpprasert in „Dial-a-Boulez“ für Orchester und Mobiltelefone ähnlich integral. Die Handytöne wurden fast schon unmerklich Teil des orchestralen Klangs. So kann die Wahl Widmanns zum Akademie-Leiter sehr wohl überzeugen, aber: Wie und in welcher Form es unter Nordmann mit der Moderne weitergeht, das bleibt vorerst die zentrale Frage. Als er im Mai 2023 als Nachfolger offiziell vorgestellt wurde, hatte er sich so gut wie gar nicht zur Moderne geäußert. Das ist inzwischen anders.

Er sieht die grundsätzliche Bedeutung der Moderne und des Zeitgenössischen als identitätsstiftendes Luzerner Alleinstellungsmerkmal; wie das aber künftig am Lucerne Festival gelebt wird, muss sich erst zeigen. Viel steht da auf dem Spiel. Wer nämlich die Akademie-Schiene stärker in das Hauptprogramm einbinden möchte, riskiert eine Verwässerung im Profil und den Verlust eines eigenen Raums für das Heute. Gleichzeitig müssen die Weichen beim LFO neu gestellt werden.

Die Eröffnung hat gezeigt, dass Chailly wieder zurück ist. Nur einer konnte in diesem Jahr am LFO-Pult ähnlich überzeugen, nämlich der regelmäßige LFO-Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin. Das LFO-Debüt von Simon Rattle war hingegen nicht ganz rund, zumal in Mahlers „Lied von der Erde“ mit den Gesangssolisten Magdalena Kožená und Clay Hilley: allein suboptimal die dynamische Balance zwischen dem Orchester und den Solisten. In den vergangenen Jahren gab es einige LFO-Pultdebüts, darunter auch von Klaus Mäkelä. Nur ein LFO-Debütant konnte bislang ganz überzeugen, nämlich Iván Fischer.

Man darf also gespannt sein, wie es beim Lucerne Festival mit Nordmann am Steuer weitergeht. Er nimmt die Nachfolge sehr ernst, ist immer wieder in Luzern zu sehen, auch beim herbstlichen „Forward“-Festival. Das ist höchst erfreulich und beruhigend, aber Nordmann kommt zu einer denkbar schwierigen Zeit. Da sind die Auswirkungen der Pandemie, steigende Kosten und Inflation infolge weltweiter Konflikte und jetzt auch noch die horrenden US-Strafzölle gegen die Schweiz: In einem Land, das kulturpolitisch vor allem auf privatwirtschaftliche Förderung und Stiftungen setzt, ist diese Gemengelage hochriskant.

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