Der 1947 in Riga geborene Gidon Kremer gehört zu den spannenden Geigern der Gegenwart. Sein Weg schien vorgezeichnet, waren doch Vater und Großvater ebenfalls Geiger. Dass er sich schon als Kind nicht „fügen“ konnte, Autorität und Hierarchien hinterfragte, brachten dem Hochbegabten in der Studienzeit und den folgenden Berufsjahren im sowjetischen System mehr als genug Schwierigkeiten. 1980 übersiedelte er in die Bundesrepublik, nachdem er bereits vorher bei den Behörden einen spektakulären zweijährigen „Westurlaub“ durchgesetzt hatte. Mit „Zwischen Welten“ stellt Gidon Kremer sein drittes Buch vor.
„Zwischen Welten“ umfasst Kremers Moskauer Studienjahre bis zum Ende der sowjetischen Karriere. In seiner Offenheit erinnert es an die frühen Erinnerungen der „Kindheitssplitter“, jedoch schreibt Kremer hier ungleich dichter. Die künstlerische Entwicklung des jungen Letten aus baltisch-deutscher Familie trifft auf den Hintergrund der 60er und zunehmend verkarsteten 70er der Sowjetunion. Im Privatleben ist, entgegen allen staatlichen Drohgebärden, kommunistischer Patriotismus längst nicht mehr alltäglich, die neue Generation von Zweiflern wächst heran. Aber nach wie vor ist hinterfragen gefährlich und nur im engsten Kreis möglich. Diese Jahrzehnte legen einen wichtigen Grundstein für den politischen Umbruch 1989. Kremer entwickelt ein lebendiges und vielschichtiges Bild des Daseins als „Musicus sowjeticus“.
Aufmerksam beobachtet der Autor die Entwicklung und Reife seiner künstlerischen Persönlichkeit aus der Retrospektive. Behutsam, jedoch nicht kritiklos kommt er seinem jungen Ich näher. Gidon Kremer ist künstlerisch unnachgiebig, risiko- und experimentierfreudig. Und er hat das Glück, in David Oistrach nicht nur einen Virtuosen von Weltrang als Mentor gewonnen zu haben, sondern auch einen ermutigenden Freund von ungewöhnlicher menschlicher Größe.
Der empfindliche junge Wettbewerbssieger mausert sich zu einem Profi. Die Konzertreisen durch Sibirien und asiatische Märchenstädte härten nicht nur die Nerven ab. Zunehmend gestaltet der Geiger seine Programme nach eigener Dramaturgie. Übergeht auch hier Normen der staatlichen Kulturpolitik, macht Erfahrungen, gewinnt Einsichten und Feinde. Aber auch Freunde für’s Leben: als Alfred Schnittke einmal im selben Hotel logiert, macht Kremer sich ein Geschenk und klopft an Schnittkes Tür. Sofia Gubaidulina, Gija Kantscheli, Arvo Pärt unter anderem sind bis heute künstlerische Partner.
Die Arbeitsintensität unter ideologischem Druck ergibt ein Konglomerat aus Kraft, Verzweiflung und Heiterkeit. Bittere Heiterkeit oft, weil vieles so lächerlich ist. Dabei sieht der Musiker die kalte Realität des Systems sehr klar und findet eine zutreffende Beurteilung: „Kafka und Orwell, die Visionäre aller möglichen Unmöglichkeiten, sind eigentlich die bedeutendsten Vertreter des ‚sozialistischen Realismus‘... Hier triste Abgeschiedenheit, da Galavorstellungen in der Hauptstadt, hier geschätzt, da angezweifelt: All das gehörte damals zu meinem Lebensalltag. Ich versuchte, damit fertig zu werden, ohne mir selbst dabei abhanden zu kommen.“
Konzerte im Wiener Musikverein öffnen die Türen zur Welt. Herbert von Karajan holt den jungen Geiger nach Berlin. Für Kremer ist es die Begegnung mit einer Legende, auch wenn sie nicht ohne Ecken und Kanten verläuft. Der Geiger ist ein ebenso starker wie schwieriger Partner,
da bleiben gelegentliche Irritationen nicht aus. Gidon Kremer analysiert wach und zunehmend schonungslos. Den Debüts mit den Wienern und Berliner Philharmonikern folgen Einladungen zum London Symphony Orchestra und nach New York: Kremer wird zum Weltbürger. Freunde nennen ihn heute den „fliegenden Holländer“. Die Splitter der Kindheit stecken auch dem Mann noch in der Haut. Unvermutet bringen sie sich schmerzhaft in Erinnerung. Dieser maßlos vereinnahmende Workaholic ist eine explosive Mischung voller Humor und Herzenswärme. Es ist naheliegend, dass Ehefrauen und Freundinnen ebenfalls ungewöhnliche Partnerinnen sind. Der zweijährige Urlaub des „Musicus sowjeticus“ endet 1980 mit dem Verzicht auf die sowjetische Staatsangehörigkeit, um einer Ausbürgerung vorzubeugen. Auch ein Gidon Kremer kann dem System das Recht auf freien Wohnsitz nicht abtrotzen. Glasnost & Perestroika sind noch weit. Kremers kritischer Epilog, Reflexion des Geschriebenen nach noch einmal zehn Jahren, schlägt den Bogen zum Beginn seines Buches. Inzwischen hat sich ein enormer gesellschaftlicher Umbruch vollzogen. Der Musiker bringt seine Erfahrungen aus beiden Welten in einen Fokus. Wittgensteins „Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen des Ichs“, Schlüsselwort im Prolog, ist allgemein gültig, so wie jede Wegsuche letztlich in persönlicher Verantwortung liegt.