Hauptbild
Erhard Grosskopfs „KlangWerk 11“ (2011) auf Vinyl!

Erhard Grosskopfs „KlangWerk 11“ (2011) auf Vinyl! 

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Ecken und Kanten

Untertitel
Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
Vorspann / Teaser

Nach dem großen Eastman-Hype um das Jahr 2015 herum wird auch die diskografische Lücke allmählich geschlossen. „Femenine“ (1974) war bisher nur in der latent chaotischen UA-Version mit dem SEM-Ensemble unter Leitung des Komponisten greifbar, jetzt haben das Talea Ensemble und die Harlem Chamber Players zusammen eine Neuversion eingespielt, die Julius Eastmans Hyper-Minimalismus wunderbar gelassen in einen hypnotischen Schwebezustand versetzt. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Im Vergleich zu Minimal-Ikonen wie Steve Reich ist das Prozedere zunächst mal aufreizend einfach: Ein rasselndes Schellen-Ostinato fungiert als rhythmischer Puls, ein Repetitions-Motiv des Vibraphons pendelt zwischen den Tönen es und f und wird unablässig wiederholt – eine geschlagene Stunde lang. Entscheidend aber, was sich daran anlagert und daraus erwächst: ein Verdichtungsprozess in Superzeitlupe aus einzelnen Akkorden und Motiv-Varianten, deren Frequenz und Timing von den Spieler*innen selbst verantwortet wird. Chris McIntyre, der künstlerische Leiter dieser Produktion, hat Eastmans Konzept der „Basicness“ (Einfachheit) beim Wort genommen. Das flexible Gebilde dieser „aleatorischen“ Minimal-Music verströmt eine Leichtigkeit, als wollte Eastman der im Titel eingeheimsten Geschlechter-Synthese (durch das Ersetzen des i durch ein e gerät „men“ in die Sphäre des Weiblichen) ein heiteres Fest geben. (Kairos)

In keine stilistische Schublade passt der 1986 in Uruguay geborene Multiinstrumentalist und Komponist Vladimir Guicheff Bogacz. Sein aktuelles Porträt in der Edition Zeitgenössische Musik vermischt Traditionen der Neuen Musik mit Einflüssen aus Jazz und lateinamerikanischer Musik, zwischen geräuschintensiver Fragmentarisierung und greller Expressivität. „Vos, seguime“ (2018) beginnt mit hochfrequenten Schreien und undefinierbaren Perkussionsakzenten wie ein Ausflug in den Dschungel. Dabei werden zwei unterschiedlich besetzte, auch räumlich getrennte Trios leicht gegeneinander verschoben. Auch „igualito, igualito, igualito“ (2018) lebt von einer sublimen Differenzierung des Ähnlichen, wo das Trio Catch als kompakter Klangkörper agiert, im Kopfsatz gemeinsam an einer Klarinette. Dass Bogacz’ Klanglandschaften eine erfrischende Unvorhersehbarkeit ihrer Abläufe auszeichnet, offenbart besonders vielfarbig „encuentros casuales“ für Ensemble (2020). Dabei können plötzliche Jazz-Fenster aufgemacht und sogleich wieder zugeschlagen werden. Das Ensemblestück „Heimlich“ (2020) beginnt – nomen est omen – im Flüsterton. Der Vokalpart kommt allerdings im Durchexerzieren experimenteller Techniken etwas klischeebeladen daher, nicht nur in den unmissverständlich erotischen Anmutungen diverser Atemgeräusche. (Wergo)

Bild
Erhard Grosskopfs „KlangWerk 11“ (2011) auf Vinyl!

Erhard Grosskopfs „KlangWerk 11“ (2011) auf Vinyl! 

Text

Eine hervorragende Idee, diese Neuveröffentlichung von Erhard Grosskopfs „KlangWerk 11“ (2011) auf Vinyl! Zum einen, weil es das eindrucksvolle Orchesterstück bisher nur in einer einzigen Aufnahme gab (Deutsches Symphonie-Orchester Berlin und Johannes Kalitzke bei Ultraschall Berlin 2017; NEOS). Zum anderen, weil der wesentlich wärmere, räumliche Klang der Schallplatte die differenzierte Architektur von Grosskopfs vielstimmiger „Prozessmusik“ (die im elektronischen Studio von Utrecht in den 1970er-Jahren ihren Anfang nahm) viel sinnlicher und differenzierter abbilden kann als die CD. Dass Grosskopfs mikrotonal fluktuierendes Klangkontinuum nicht einfach ein verspäteter Abglanz des Sonorismus’ der 1960er-Jahre, sondern mit scharfen Ecken und Kanten versehen ist, demonstrieren Lucas Vis und das Frankfurter Radio Symphonie-Orchester 2013 im Mitschnitt der UA aus dem hr-Sendesaal mit Gespür für feinste farbliche und räumliche Abstufungen. Der ruhig atmende Organismus (ca. 5 Minuten länger als die Berliner Einspielung!) bewegt sich nicht nur aus vielfarbig oszillierender Flächigkeit in Momente reinen Rauschens hinein, sondern ist gespickt mit dramatischen Intarsien. Eher Implosionen als Erschütterungen, die diese objekthafte Musik immer wieder ins Unheilschwangere kippen lassen. Die unerwartet einsetzenden Klavierfiguren am Ende wirken da nur umso seltsamer – verlorene, fast trotzige Mitteilungen. (Edition Telemark; LP) 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!