Heutzutage werden alte Jazzaufnahmen meist von Plattformen wie Spotify oder YouTube gestreamt. Die Nutzer geben sich mit wenigen und oft falschen Informationen zufrieden. Doch mit dem physischen Exemplar verliert sich das Wissen um die Entstehung der Musik und jazzhistorische Zusammenhänge. Wenn es eine Hoffnung für die Wiederveröffentlichung und gute Dokumentation historischer Jazzaufnahmen auf physischen Tonträgern gibt, dann liegt sie bei kleinen, feinen Labels.
Feine, kleine Labels
… And More Bears, ein Ableger des für seine Boxen renommierten Labels „Bear Family“, tritt die Flucht nach vorne an. Normalerweise begleiten schmale Booklets die CDs. Hier sind die CDs selbst (immer auch klangtechnisch hervorragend aufgearbeitete) Dreingabe zu einem großen 72-seitigen Buch (21x26 cm), einem reich illustrierten Farbband, prall gefüllt mit Informationen. Dieses Format bewährt sich bei „After the Riot at Newport“ der Nashville All Stars. Das Newport Jazz Festival von 1960 ist Stoff von Legenden. Einerseits organisierten einige Musiker um Charles Mingus wegen seiner kommerziellen Ausrichtung ein Gegenfestival, andererseits wurde das Festival wegen randalierender, alkoholisierter Jugendlicher abgebrochen. Trotzdem entstanden bekannte Scheiben wie „Muddy Waters at Newport“. Die Nashville All-Stars, eine Truppe, von der man sich angesichts der Besetzung mit Größen wie Hank Garland und Chet Atkins Country erwarten würde, konnten zwar nicht auf dem Festival auftreten, doch keiner konnte ihnen verbieten bei einer Gartenparty eine Platte aufzunehmen. Allerdings spielten sie astreinen Jazz, bei dem der große Vibraphonist Gary Burton am Anfang seiner Karriere aufgenommen wurde. Der vergessene Geiger Brenton Banks ist eine Entdeckung. Diese neue Ausgabe enthält acht bisher unbekannte Aufnahmen des Events, davon drei der famosen Gesangsgruppe Andy & The Bey Sisters.
Das Jazzlabel Muse Records war von 1972 bis 1995 Nachfolger des legendären Labels Prestige und der Vorgänger von High Note Records. Es machte hochkarätige Aufnahmen mit Schwerpunkt auf Bop (ohne puristische Scheuklappen) und gewährte den Künstlern Ausdrucksfreiheit. Das Label Time Traveler Records hat sich dieses brachliegenden Schatzes angenommen. Die originalen Masterbänder wurden sorgfältig remastert. Die Wiederveröffentlichungen gleichen, abgesehen vom Time-Traveler-Logo, den Originalen, sind aber in der Fertigung der Hülle und der Vinyl-Platte hochwertiger. In jeder LP (CDs gibt es nicht) steckt ein Einlegeblatt mit zusätzlichen neuen Liner Notes. Die ersten drei Scheiben, alle aus den 70er-Jahren, liegen bereits vor. Auf „The Free Slave“, ein mit Hochkarätern wie Woody Shaw (tp) und George Coleman (ts) eingespieltes Live-Album des phänomenalen Drummers Roy Brooks hören wir Rhythmen wie Boogaloo, Bossa und in „Five For Max“ einen Samba im 5/4-Takt. Brooks bedient hier das „Breath-a-Tone“, eine selbsterfundene Vorrichtung, durch die mittels Luft die Spannung der Felle und somit der Klang der Trommeln verändert wird. Die lebhafte Anteilnahme des Publikums machte es zum sechsten Musiker des Quintetts. So begeistertes Johlen, Zurufen und Kommentieren gibt es heute im Jazz kaum noch. Mit „Cosmos Nucleus“ versuchte sich der panamaische Saxophonist Carlos Garnett an einer Art spirituellem Dancefloor Jazz. Es war seine erste Zusammenarbeit mit einer Bigband, wie Syd Schwartz in den Liner Notes anmerkt, „zu esoterisch für R&B-Radio, zu rhythmisch für Jazz-Snobs und viel zu kosmisch für eine Post-Bop-Welt“. „Sunset To Dawn“ war nach dutzenden Platten als Sideman das erste Album des Pianisten Kenny Barron als Leader. Er bewährte sich bei der Hälfte der Stücke – man höre und staune – glänzend auf dem damals modischen E-Piano, das er doch gar nicht liebte. Der Muse-Katalog ist bei Time Traveler in guten Händen: Das Comeback einer Legende.
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