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Liederzyklen mit Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, Eva Csapó, Friedhelm Döhl und Mario Venzago. Abb.: Friedhelm Döhl Edition/Dreyer.Gaido
Liederzyklen mit Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, Eva Csapó, Friedhelm Döhl und Mario Venzago. Abb.: Friedhelm Döhl Edition/Dreyer.Gaido
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Friedhelm Döhls skeptischer Kompositionsansatz

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Auf Tonträgern nachgehört – ein Gruß zum siebzigsten Geburtstag des Komponisten
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Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts, vor allem die nach 1945 entstandene, hat ins allgemeine Repertoire des heutigen Opern- und Konzertlebens keinen Eingang gefunden. Außerdem ist seltsam zu beobachten, dass heute aktive Komponisten in gewissen geografischen Gegenden unterschiedlich beachtet, oft auch komplett übergangen werden. Dieser Befund ergibt sich aufgrund bestimmter rezeptorischer Verhaltensmaßnahmen unserer Gesellschaft. Immerhin lässt er keine Rückschlüsse auf die Qualität der Musikwerke im Einzelnen zu.

Friedhelm Döhl, der am 7. Juli 2006 Siebzigjährige, gehört zu den von diesem Rezeptions-Defizit betroffenen Komponisten. Da der aktive Musikbetrieb zu wenig auf diese Situation reagiert, ist die Funktion der Tonträger um so wichtiger geworden. Sie verbreiten Musik von Komponisten wie Döhl, wenn auch oftmals nur auf Zeit: Platten und CDs mit geringerer Außenwirkung pflegen nach bestimmten Laufzeiten aus dem diskographischen Repertoire wieder gestrichen zu werden. Eine konstante Verlässlichkeit der Verbreitungspraxis ist also auch bei diesem Medium nicht gegeben, wenngleich ein grundsätzlicher Vorteil für sogenannte moderne Komponisten existiert.

Auf wissenschaftliche Nachschlagewerke kann man in der Beziehung auch nicht mehr durchgehend bauen, wie der Fall Döhl beweist. Aus einem gut beleumundeten deutschsprachigen Komponisten-Lexikon von 1992 wurden in dessen zweiter Auflage 2003 etwa dreißig Einträge eliminiert (was der Herausgeber in seinem Vorwort zur zweiten Auflage verschweigt), und Döhl gehört zu den hier Aussortierten.

Immerhin ist er andernorts repräsentativ berücksichtigt, was den speziellen Fall nicht löst. Geht es doch um die Revision einer Auswahlpraxis zuungunsten Döhls und anderer betroffener Komponisten: 1992 erwähnt, schienen sie elf Jahre später keiner Beachtung mehr wert. Hatte man sich vorher in ihnen geirrt; komponieren sie mittlerweile schlechter; sind sie und ihre Arbeiten überholt (was immer das meint)? Oder hat man aus der Tatsache, dass ihre Musik in Deutschland nicht flächendeckend verbreitet wird, Konsequenzen, allerdings die falschen, gezogen?

Nicht jeder Komponist hat in solcher Situation das Glück, dass der Tonträger für ihn eintritt, und sei es auf Zeit. Ars musici hat 2000 Döhls Symphonie für großes Orchester (Mitschnitt der Lübecker Uraufführung von 1998) veröffentlicht. Und 2003 folgte das Label Dreyer.Gaido (ausgeliefert von KlassikCenter Kassel) mit einer Friedhelm-Döhl-Edition, die inzwischen auf sechs CDs angewachsen ist (und fortgeführt werden soll). Mit sieben ihm vorbehaltenen Werk-CDs ist Döhl also sehr gut im Tonträger-Katalog vertreten, weit besser als die meisten seiner komponierenden Kollegen heute, von einigen Galionsfiguren der modernen deutschen Musikszene abgesehen. Wie aber kann sich Döhl mit der auf den CDs getroffenen Werkauswahl präsentieren, wie umfassend oder ausschnitthaft materialisiert er sich für denjenigen, der mit seiner Musik bisher noch nicht in Verbindung gekommen ist?

Bei solchen nicht speziell produzierten Serien selektiven Charakters spielen die Verfügbarkeit von Aufnahmen, ihr künstlerischer und technischer Standard, Veröffentlichungs-Zustimmungen von Interpreten und Rundfunkanstalten et cetera eine Rolle. Wesentlich darauf (und nicht nur auf persönlicher Auswahl) basiert bei den CD-Veröffentlichungen von Neuer Musik heute das Editions-Ergebnis.

Auch in der Beziehung kann man für Döhl Positiva registrieren. Unter Berücksichtigung der genannten Faktoren lässt sich sagen, dass in der Döhl-Edition verständlicherweise nicht seine komplette Werk-Palette vorliegt, aber dafür, vielfältig-differenziert und somit überzeugend kombiniert, in einer gelungenen Auswahl das dokumentiert wird, was Döhl – nahezu seit Studienzeiten – kompositorisch zum Ausdruck gebracht hat. Der gelungene Überblick dürfte sich noch verdichten und präzisieren, wenn weitere CDs die Reihe fortgesetzt haben werden.

Die sechs CDs der Dreyer.Gaido-Serie sind nach den komponierten Darstellungsformen der Musik Döhls programmiert. Das erweist sich nach dem Höreindruck als sinnvoller, als wenn man der Chronologie der Werkentstehung gefolgt wäre. So werden zusammengefasst Klaviermusik; Klaviermusik für offenen Flügel (was auf die Wiedergabe der Musik auf Tastatur und Saitenbezug verweist); Liedkompositionen mit Klavier; Gesänge und Mikrodramen (begleitet von gemischten Ensembles); symphonische Musik mit Soloinstrumenten. Nur die erste CD der Serie hebt auf Thematisches ab: Ein Klavierzyklus und ein Streichquintett sind um Schuberts Winterreise zentriert (der Schubert/Müller-Titel bedeutet Döhl symbolisch das Leben in und um uns); einem Streichquartett liegen Natureindrücke aus Schottland zugrunde; ein Duo für Akkordeon und Kontrabass imaginiert eine Nachtszene.

Friedhelm Döhls musikalische Poetik basiert auf tradierten wie progressiv-experimentellen Arbeits-Verfahren, und sie weicht auch Extrempositionen bis hin zur Banalkarikatur in Collage-Studien nicht aus. Das hat Döhls spezifischen Motivationstrieb, gewonnen aus Anregungen, wie Lyrik und Dramatik sie offenbaren, geprägt. Stichworte für diese Richtung der motivatorischen Selbstabsicherung – Döhl ist ein stark literarisch orientierter Komponist – sind Namen wie Hölde-rlin, Trakl, Kafka, Hans Henny Jahnn, Celan, Becket. Sie besetzen Döhl nicht nur mit ihren differenziert ausgearbeiteten dichterischen Vorlagen, die er klanglich eingefasst hat, sondern sie haben ihn auch zu reinen Instrumentalstücken inspiriert.

Und in der klanglichen Sphäre ist es Gustav Mahlers Konzeption, zu der er sich bekennt, und immer wieder Schubert, der ihn gleichsam zwanghaft anzieht. Das beweisen zentrale Zitate Schuberts, aber auch persönlich gestaltete Allusionen, die gleichsam ahnungsvoll Quasi-Bezüge auslösen.

Stationen eines Komponistenlebens, wenn man sich auf solche Rubrizierung einlassen will, werden durch die Inhalte der sechs beziehungsweise sieben CDs nicht so strikt reflektiert, wie man das erwarten könnte. Denn Döhls Kompositionsästhetik, zu Anfang seiner Laufbahn noch mit eingängigen Harmoniestrecken durchsetzt (wie in den Trakl-Liedern von 1956), wandelte sich nach einer durchlebten Erfahrung mit Anton Webern (samt ihrem theoretischen Niederschlag in seiner Dissertation 1966) und erfuhr ab den späten 60ern auch immer wieder Verschleifungen zwischen scheinbar Abgeschlossenem und Zukünftigem. Die Endgültigkeit von Kompositions-Ergebnissen relativierte sich: Döhl griff nicht selten Kompositionen nach Zeiten wieder auf und revidierte sie. Seine Arbeitsästhetik überbrückte denkbare Zäsuren und Stationen, sie garantierte ihm Stil und persönlich geprägte Ausdrucksmuster.

Den Aufbruch in Neuland mit authentischem Ergebnis bildeten wohl die Hölderlin-Fragmente „ …warum aber…“. Eine einschneidende Markierung, in eindrucksvollen Realisationen verdeutlicht, stellen, mehr noch als der Medea-Monolog, die „Szene über einen kleinen Tod“ und zwei Mikrodramen dar: das bis in die schiere Ironie getriebene „A & O“ (für einen Sprecher selbviert, wie der Titelzusatz lautet) und „Anna K/Informationen über einen Leichenfund“ (mit der unausgesprochenen Anspielung auf Kafkas Josef K. und dem ratlosen Austritt aus dem, was Handlung zu nennen kaum zulässt).

Friedhelm Döhls Umgang mit der Charakteristik des Sinfonischen stellt sich nach reinem Höreindruck auf direktere Art in Richtung Wirkungsdichte mit unverschleiertem Blick ins Tradierte dar. Die drei Kompositionen, die das resümieren (was auf zwei der sieben CDs nachzuvollziehen ist), sind das Cellokonzert (mit dem Untertitel „wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen“) von 1980/81, das Klavierkonzert (benannt als „Sommerreise“) von 1996/97 und die fürs hundert Jahre alte Lübecker Orchester entstandene Symphonie von 1998 – mit ihren sieben Sätzen ein Mahler-Nachklang ohne zitierende Anklänge, aber von spürbarer Verpflichtungshaltung getragen).

Das Label Dreyer.Gaido hat, so könnte es scheinen, mit seinen sechs Döhl-CDs auf den siebzigsten Geburtstag des Komponisten hingearbeitet, ihn so geehrt und ganz praktisch eine Informationslücke geschlossen. Döhl hat sich als Romantiker bekannt, Romantiker nicht im Sinne einer epochalen Begrenztheit, sondern mit der Vergewisserung eines Selbst-Suchers im Spurenvorrat der Vergangenheit, um mit seiner Musik Antworten darauf zu finden.

Döhls Komponieren werde zur ars quaerendi, hat Peter Becker formuliert. Die Döhl-CD-Edition von Dreyer.Gaido dokumentiert diesen skeptischen Ansatz des Komponisten und ermöglicht den teilnehmenden Nachvollzug durch viele. Friedhelm Döhl wird dies als Geburtstagsgabe willkommen sein.

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