Das Publikum verehrt ihn heute noch mehr als früher, in aller Welt wie in Berlin. Als Claudio Abbado dort am 26. April sein letztes Konzert als Künstlerischer Leiter der Philharmoniker dirigierte, wollten ihn die Zuhörer nicht mehr vom Podium lassen. Es gab, wie wohl noch nie in der Geschichte der Philharmonie, eine halbstündige stehende Ovation und ein Meer von Blumen. Dabei hatte sich das lange Programm, nach dem „Schicksalslied“ von Brahms und fünf Rückert-Liedern Mahlers in einem experimentellen zweiten Teil – mit der verstörenden Filmmusik zu „King Lear“ setzte sich Abbado erstmals mit Schostakowitsch auseinander – von Nostalgie entschieden entfernt. Offenbar wollte er als ein Mann des Neuen im Gedächtnis bleiben, als Mittler zwischen den Künsten, als „Wanderer“ im Sinne seines Freundes Luigi Nono.
Das Publikum verehrt ihn heute noch mehr als früher, in aller Welt wie in Berlin. Als Claudio Abbado dort am 26. April sein letztes Konzert als Künstlerischer Leiter der Philharmoniker dirigierte, wollten ihn die Zuhörer nicht mehr vom Podium lassen. Es gab, wie wohl noch nie in der Geschichte der Philharmonie, eine halbstündige stehende Ovation und ein Meer von Blumen. Dabei hatte sich das lange Programm, nach dem „Schicksalslied“ von Brahms und fünf Rückert-Liedern Mahlers in einem experimentellen zweiten Teil – mit der verstörenden Filmmusik zu „King Lear“ setzte sich Abbado erstmals mit Schostakowitsch auseinander – von Nostalgie entschieden entfernt. Offenbar wollte er als ein Mann des Neuen im Gedächtnis bleiben, als Mittler zwischen den Künsten, als „Wanderer“ im Sinne seines Freundes Luigi Nono. Zu den bewegendsten Momenten des Abends gehörte das von Waltraud Meier mit unendlichem Atem vorgetragene „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, das in Streichern und Englischem Horn magisch ins Nichts verebbte und damit an den Wunsch des Dirigenten erinnerte, sich zunächst für ein Jahr aus dem Konzertleben zurückzuziehen. Auch auf der Italien-Tournee, die dem Berliner Konzert folgte, waren diese bedeutungsvollen Lieder mehrfach zu hören. Beim „eigentlichen“ Abschiedskonzert am 13. Mai im Wiener Musikverein stand jedoch Mahlers energiegeladene siebte Symphonie auf dem Programm – ein Indiz dafür, dass von einem endgültigen Abgang vom Konzertpodium nicht die Rede sein kann. Auch in Berlin freut man sich bereits auf Abbados Wiederkehr als Gastdirigent ab 2004.Nach einer triumphalen Brahms-Interpretation war der stille Mailänder 1989 überraschend zum Karajan-Nachfolger gewählt worden. Dennoch war und ist die Verbundenheit zu Mahler stärker; nicht ohne Grund trägt das von ihm ins Leben gerufene Jugendorchester den Namen dieses Komponisten. Die Aufnahmen der Mahler-Symphonien Nr. 3, 7 und 9, die die Deutsche Grammophon zum Ende seiner Berliner Amtszeit herausbrachte, sind Höhepunkte seiner künstlerischen Laufbahn und Marksteine in der Geschichte des Orchesters. Schon bei seinen ersten Gastdirigaten 1967 und 1969 stand Mahler auf dem Programm. Während Abbado, der besonders Bruno Walter, Willem Mengelberg und Dimitri Mitropoulos als Mahler-Interpreten schätzt, zunächst die Symphonien Nr. 1, 2 und 6 sowie die Kindertotenlieder bevorzugte, dirigierte er 1993 erstmals auch die Vierte, Fünfte und Neunte mit „seinen“ Berlinern. Der Neunten gehörte fortan seine besondere Liebe. Mit ihr erwies er sich weltweit als eminenter Kulturbotschafter. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, am 18. Mai 2000 im Teatro Colon von Buenos Aires die Neunte unter Abbados Leitung erlebt hat, wird dies nie vergessen können. Im Schlusssatz kam es zu beispielloser Differenzierung der Pianissimo-Regionen, bis sich nach einer langen Pause die bis zum Bersten gespannte Atmosphäre in Ovationen entlud. Die wichtigste Zeitung Argentiniens, die den Abend (zufällig an Mahlers Todestag) als „Konzert des Jahres“ angekündigt hatte, steigerte sich danach in ihrer mehrere Seiten (!) umfassenden Berichterstattung zu dem superlativischen Urteil „Konzert des Jahrhunderts“.
Auch in Berlin, wo man sich an denkwürdige Interpretationen dieser Symphonie unter Herbert von Karajan erinnert, konnte Abbado 1993, 1995 und 1999 mit Mahlers Neunter Musiker und Hörer in Wallung versetzen. Die von Karajan kultivierte Homogenität des Klangs baute er während seiner Amtszeit trotz eines tief greifenden Generationenwechsels im Orchester erneut auf und ergänzte sie durch größere Transparenz und Flexibilität. Die Politur des Klangkörpers ersetzte er durch reichere Ausdrucks- und Sprachfähigkeit, wie sie der von beiden Seiten gewünschten Ausweitung des Repertoires entsprach.
Dass Claudio Abbado dabei eine klare Strategie verfolgte, war weniger den Proben als vielmehr den Konzerten anzumerken. In gemeinsamem Hören und Reagieren führten sie zu Glückserlebnissen wie dem Berliner Festwochenkonzert vom 6. September 1999, das nun als Live-Mitschnitt vorliegt (DG 471 624-2). Nach dem unendlich langsam verdämmernden Adagio-Schluß vernimmt man förmlich das gebannte Schweigen, das sich erst nach 40 Sekunden in enorm anwachsenden Beifall löst. Eine so intensive Stille war für den Dirigenten, wie er einmal gegenüber Gerhard R. Koch gestand, Indiz gelungener Kommunikation und damit der künstlerischen Aufnahmefähigkeit des Berliner Publikums.
Wie bei allen Auftritten des uneitlen Maestros steht auch bei diesen CD-Editionen des Gelblabels das Werk im Vordergrund. Bei den Riesensätzen der Neunten bietet die Track-Markierung der Formteile sinnvolle Hörhilfen.
Auch die beiden anderen Mahler-Aufnahmen sind Konzertmitschnitte. Während die Interpretation der neunte Symphonie langsam reifte, trägt der Berliner Mitschnitt der Siebten vom Mai 2001 (DG 471 623-2) den Charakter einer spontanen Entdeckung. Abbado hatte dieses Werk an jenem Abend überhaupt zum ersten Mal mit den Philharmonikern aufgeführt, wobei man die enge Partnerschaft zu spüren meint, die sich nach seiner schwerer Operation noch intensiviert hatte. Auch an die Dritte näherte er sich erst spät an, ohne sie jemals in Berlin aufzuführen.
1998 gastierte er mit ihr und den Philharmonikern in München, Wien, in Italien, den USA, Japan, ein Jahr später dann in London, Paris und Chicago. Höhepunkt der Live-Aufnahme vom 11. Oktober 1999 aus der Royal Festival Hall London (DG 471 502-2) ist wiederum das großbogige Schluss-Adagio, bei der die Noblesse der Streicher ebenso überzeugt wie die ohne Übertreibung erzielte Intensität. Wie das englische Publikum reagierte auch die Presse enthusiastisch; sie staunte, wie Abbados zurückhaltende Zeichengebung solche Resultate hervorbringt, fragte aber auch besorgt, ob das Orchester nach zehn Jahren unter Simon Rattles Leitung noch eines so flexiblen Klangs fähig sein werde.
Während der Abgang Karajans verspätet erfolgte, war der seines Nachfolgers Abbado verfrüht. Nachdem eine große Zeitung seinen Probenstil scharf und unfair kritisiert hatte, erklärte der einzige demokratisch gewählte Philharmoniker-Chef Anfang 1998, noch vor der Erkrankung, seinen Rücktritt. Im Unterschied zu Furtwängler (25 Jahre) und Karajan (34) brachte Abbado es damit auf nur zwölf Berliner Amtsjahre. Diese Jahre, in ihren klingenden Resultaten allerdings ein Glücksfall, sind wie in einem Zeitraffer auf den zwei CDs jenes „Berlin-Album“ (DG 471 627-2) nachzuerleben, das mit charakteristischen Werkausschnitten die Vorlieben und Stärken des Maestros zeigt, seinen Einsatz für die Moderne freilich ausspart. Wer die großen Formprozesse erkunden und die Intensität der Stille nachempfinden will, für die Abbado ein besonderes Gespür besitzt, sollte eher zu den Mahler-Aufnahmen greifen.