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Felipe Lara: Portals [Kairos]

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Kosmisches Kreisen

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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Lange bevor der Umgang mit nicht-temperierten Tonhöhen in der Neuen Musik zur Selbstverständlichkeit wurde, hat Gloria Coates mikrotonale Klangqualitäten substantiell in ihre Musik integriert. +++ Wer seine Freude an farbintensiven Ensemblestücken hat, wo es an allen Ecken und Kanten schnarrt, faucht, ächzt und geräuschträchtig vibriert, ist beim brasilianisch-amerikanischen Komponisten Felipe Lara bestens aufgehoben.  +++ Definitiv zum Klassiker moderner Klavierliteratur avanciert ist Karlheinz Stockhausens „Mantra“ für zwei Pianisten (1970).

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Lange bevor der Umgang mit nicht-temperierten Tonhöhen in der Neuen Musik zur Selbstverständlichkeit wurde, hat Gloria Coates mikrotonale Klangqualitäten substantiell in ihre Musik integriert. Nicht nur daran erinnert diese hervorragende Produktion des Münchener Kammerorchesters mit ausgewählten Orchesterstücken. Besonders beeindruckend: die Begegnung mit der Symphony No. 1 „Music on Open Strings“ (1972/73), die das Zeug zum Klassiker hätte. Das vielstimmig vernetzte Klanggewebe für Streichorchester wird fast ausschließlich auf den leeren Saiten geknüpft oder bündelt glissandierende Stimmenfäden zu mächtigen Strömen. Im „Refracted Mirror Canon“ steigert sich das zu beeindruckender Dichte und Intensität. Die dreiteilige Symphony No. 16 „Time Frozen“ (1993) sinnt kontemplativ bis klanggewaltig verschiedenen Zeitempfindungen nach. Potentiell unendlich kreisende Materialbewegungen werden dabei von subtilen Reibungen und Interferenzen gespeist. Am Ende wird daraus eine Klang-Lawine gewaltigen Ausmaßes. Überraschend dramatische Töne in Anlehnung an das spätromantische Orchesterlied schlagen „Wir tönen allein“ (1988) und „Cette blanche agonie“ (1988) an, ein komplementäres Diptychon existentieller Verlorenheit: erst mit Paul Celans „Sperriges Morgen“ aus „Lichtzwang“ und einer hochexpressiven Sopranpartie; dann über Verse von Stéphane Mallarmé als düs­tere Zwiesprache mit einem Englisch Horn. (Neos)

Wer seine Freude an farbintensiven Ensemblestücken hat, wo es an allen Ecken und Kanten schnarrt, faucht, ächzt und geräuschträchtig vibriert, ist beim brasilianisch-amerikanischen Komponisten Felipe Lara bestens aufgehoben. Dass Laras Klänge sich oft verstärkt im Raum entfalten, um ihre Artikulationen noch hörbarer zu machen, leuchtet ein. In „Chambered Spirals“ (2020) drängt ein pulsierender Organismus in spriralförmigen Bewegungen nach vorn und trägt schräge Motiv-Fetzen und rhythmische Kurzmitteilungen mit sich. „Ventos Uivantes“ (2014) bringt seine Natur­evokationen als verkapptes „Flötenkonzert“ zu Gehör und macht seinem Titel („Heulende Winde“) artikulatorisch alle Ehre. Die fransigen Klanggewebe von „Fringes“ (2015) werden von verschieden positionierten Klanggruppen realisiert, die schneidend extreme Frequenzen auskosten und Mini-Crescendos wie Pfeile durch den Raum schießen. (Kairos)

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Felipe Lara: Portals [Kairos]

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Definitiv zum Klassiker moderner Klavierliteratur avanciert ist Karlheinz Stockhausens „Mantra“ für zwei Pianisten (1970). Das Klavierduo GrauSchumacher hat die Initialzündung von Stockhausens „Formelkomposition“ bereits 1993 im Hessischen Rundfunk eingespielt, erschienen vor gut 30 Jahren bei WERGO. Jetzt gibt es eine Neuinterpretation in Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio Freiburg. Es liegt also nahe, hier Gestern und Heute zu vergleichen. Fazit: In der Neuaufnahme wird die elektronische Ebene viel unprätentiöser gehandhabt, der Klavierklang also weitaus behutsamer ringmodulatorisch verbeult, verbogen, verzerrt und verwischt. Ja manchmal klingen diese Klangerweiterungen, die sich dem Normalklang live-elektronisch anlagern, fast wie trockene Prepared-Piano-Klänge. Das Augenmerk von GrauSchumacher liegt hier weitaus mehr auf der bemerkenswerten pianistischen Vielgestaltigkeit, die Stockhausen aus der 13-tönigen Formel und ihren wechselnden Zentraltönen, Überlagerungen, Transformationen und insistierenden Wiederholungen entwickelt. Das kommt in den langsamen Partien mit kontemplativer Gelassenheit daher, in den virtuosen Abschnitten kann das ekstatische Qualitäten entwickeln, die Messiaen-haft schillern. Schließlich ist „Mantra“ nicht nur ein Hybrid aus Klavierklang und Elektronik, sondern auch ein Doppelwesen aus Ratio und Ritus, wo (ebenfalls von den Pianisten gespielte) antike Zymbeln und Wood Blocks einen zusätzlichen spirituellen Klangraum aufmachen, in denen sich die Tastenklänge bedeutungsschwanger hineinbewegen. Dass die strenge zyklische Konstruktion des Werks (nach einigen Jahren „Intuitiver Musik“) nichts weniger als „eine musikalische Miniatur der einheitlichen Makro-Struktur des Kosmos“ darstellen sollte, versteht sich bei Stockhausen fast von selbst. (Neos) 

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