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Neue Platten in windigen Zeiten

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Hält der Oktober das Laub, wirbelt zu Weihnachten Staub
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Das Jahr ist fast zu Ende. Phonotechnisch. Die ersten Kompilationen kratzen schon an den Türen der Internetportale, die den Plattenladen abgelöst haben. Bisher kein schlechtes Jahr. Gute Veröffentlichungen. Wenig Makulatur. Wie auch. „Popstars“ hat erst begonnen. Also befürchten wir obigen Leitsatz für Oktober. Was uns für November schwant, könnte tatsächlich Staub, Müll und Ausschuss werden. Ein letztes Mal freuen über interessante Platten also nun:
Ein wirklich wunderbarer deutscher Sänger und Songschreiber ist Ben Kaan. Stille ist sein Credo auf „Zuhause Wohnen/The Extrovert Album“. Dahinperlende Akustikgitarren. Sanfte Melodien. Brüchig, morsch und genial instabil von Ben Kaan vorgetragen. Bedeutung haben diese Songs. Weite. Keine Tragweite. Aber im Sinne von Erweiterung. Sicher Pop, das Ganze. Aber lyrischer. Im Herbst kaufen. Kann für jeden ein neurotisches Album werden.

Eine Aufarbeitung, die man im Sinne der Kritik gar nicht einordnen kann, uns aber erfreut, bildet Phillip Boa & The Voodooclub mit dem „Boa Re-Mastered“-Reigen der Alben „Copperfield, Hair und Hispanola“. Die wurden neu gebügelt. Trocken geritten. Und posaunen somit faltenfrei im Ton beziehungsweise restauriert im Klang. Zudem sind es natürlich schon die Phillip-Boa-Klassiker-Alben, die uns da neu feilgeboten werden. Also eine Chance für die Randgruppe. Die, die oft von Boa hörten, sich aber nie trauten. Rockmusik, die ungelogen fair und solidarisch und ritterlich ist. Seit Jahrzehnten.

Seit drei oder vier Jahren ist Quadro Nuevo die Definition für Multikulti-Musik, Weltmusik oder Temperamentsmusik aus allen Teilen Europas. „tango bitter sweet“, der aktuelle Beitrag zur musikalischen Weltbetroffenheit, wartet dementsprechend völlig unerwartet mit einem Durcheinander aus Flamenco, Tango, Emotion, Balkan, Leichtigkeit oder Valse Musette auf. Mittlerweile ohne Zweifel perfekt von Quadro Nuevo gespielt. Die Frage ist, ob Perfektionismus nicht Spontaneität killt. Sie platt macht. Und damit das aktuelle Album zu einem sehr guten macht, das aber einen fast verschwiegenen Hang zur Routine aufweist.

Beachtenswert zeigt sich das Debutalbum des Norwegers Heine Totland. Ein unverbrauchter Sänger, der auf „Tough Times for Gentlemen“ sogar noch Geduld, Muse und Zeit findet, ein Duett mit der Ehefrau zu trällern. Heine Totland kennt zunächst mal den Begriff Pop. Den aber vergilbt er mit schrägen Streichern, klassischen Elementen, pflastert ihn mit pathetischen Klavieren zu oder schwelgt ohne großes Aufsehen schlicht akustisch, leicht „jazzierend“. Das Album fordert den Hörer. Verlangt Konzentration. Auch wenn ihm mal Mainstream wie „Happy as I am“ ausrutscht. Sonst durchwegs positiver Eindruck. Könnte aus Norwegen immer schlimmer kommen.

Mit Sicherheit neben dem Papst das Comeback des Jahres: Level 42 stellen „Retroglide“ vor. Das erste Studioalbum der Vorzeige-Popper. Mark King hat zwar nicht die alte Mannschaft versammelt, dennoch ein fähiges Team auf die Beine gestellt. „Retroglide“ ist komplett durchgestylt. Leicht „sophisticated“. Knapp vor der Borniertheit. Aber eben noch so sympathisch kompatibel, dass gleich einige Nummern in Frage kommen, den Gassenhauer „Lessons in Love“ endlich in den Höranstalten abzulösen. Kein Ton wurde dem Zufall überlassen und so bleibt Level 42 was es immer war: korrekter Pop mit Musikstudenten- Charme.

Böse Menschen nennen Steely Dan Studiobastler. Andere schwelgen von Künstlern, Dirigenten und Meistern der Soundcollagen. Jetzt gibt’s die „Definitive Collection“ zum kollektiven Rumnörgeln oder Abfeiern.

Ben Kaan – Zuhause Wohnen/The Extrovert
Album (06.10.2006, Lamm Records)

Phillip Boa & The Voodooclub – Boa Remastered
(01.10.2006, Universal)

Quadro Nuevo – tango bitter sweet
(06.10.2006, GLM)

Heine Totland – Tough Times for Gentlemen
(20.10.2006, Edel)

Level 42 – Retroglide
(20.10.2006, Universal)

Steely Dan – The Definitive Collection
(29.09.2006, Mercury)

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