Musik von und mit: Ensemble Nikel, Marco Momi, Coriún Aharonián, Ensemble Aventure, Johannes Kreidler, Martin Tchiba.
Johannes Kreidler, im Selbstverständnis eher Medienkünstler als Notenschreiber, würde man nicht zwangsläufig mit dem Thema „Klaviermusik“ in Verbindung bringen. Und doch gab es auch beim Inaugurator des „Neuen Konzeptualismus“ anfänglich ganz offensichtlich das Bedürfnis, Fragen der Struktur in Reinkultur zu erörtern, an einem Instrument, das nicht nur Signum des Virtuosentums ist, sondern auch sein Gegenteil verkörpert: musikalische Abstraktion. Martin Tchiba hat nun Kreidlers pianistisches „Frühwerk“ (größtenteils 2004–2006 noch im Studium bei Mathias Spahlinger entstanden) eingespielt und er nimmt das so gehörig ernst, dass daraus Musik ohne Wenn und Aber wird. Tchiba kommt dem maschinellen Duktus der rhythmisch vertrackten Repetitions-Module im Dauer-Forte („Klavierstück 1“) mit kantiger Artikulation entgegen. Andererseits verleiht er den auf engstem Tonraum sich drehenden Figurationen im „Klavierstück 2“ mit feinen Beschleunigungen und Verlangsamungen eine fast melancholische Präsenz. Im „Klavierstück 5“ (2005) begegnet einem dann eine Collage-Ästhetik, in der sich erstmals Kreidlers „Musik mit Musik“ manifestiert. Im musikalischen Konzeptualismus späterer Tage wurde das Klavier nur noch sporadisch beansprucht: Die „Neutralisation Study“ (2014) basiert auf eintaktigen musikalischen Readymades, die Beethovens frühen Klaviersonaten entnommen sind. Aus ihnen werden pulsierende Tonwiederholungen herausgefiltert, als hätte der Kompositionsprozess schon nach einem Takt Sand im Getriebe. (emt)
Enno Poppes „Rundfunk“ gehörte zu den auffälligsten Kompositionen des letzten Jahres, die auf praktisch keinem Festival fehlte. Das Stück für neun Synthesizer ist prominentes Beispiel einer momentan verbreiteten Affinität zu Retro-Elektronik und deren eher haptischen Produktionsformen. Doch Vorsicht: Poppe nutzt keine historischen Instrumente, sondern hat die Synthesizer mit historischen Klängen älterer Vorgänger belegt. Die mischt er in drei Teilen zu immer neuen Farben und Schichtungen, die gewinnbringend zwischen Ironie und Rausch, Affirmation und latenter Kritik, historischem Verweis und klanglicher Unmitttelbarkeit pendeln. Das kann ins Groteske umkippen, düstere Drones entfachen und sich am Ende in rauschhafte Dichte hineinvibrieren. (Wergo)
Komponist/-innen aus Lateinamerika erfahren in jüngster Zeit auffallend intensive posthume Würdigungen. Damit sind äußerst interessante Entdeckungen verbunden. Nach Graciela Paraskevaidis steht momentan der ebenfalls in Uruguay aktive Coriún Aharonián stärker im Blickpunkt. Ein eminent politischer Komponist, dessen hybrides Konzept einer „Musica mestiza“ eigene künstlerische Wege im postkolonialistischen Lateinamerika ermöglichen sollte. Das Aharonián-erprobte Ensemble Aventure gestaltet in diesen dankenswerten Neu- und Ersteinspielungen mit bezwingender Schärfe und Dringlichkeit eine Musik extremer Materialökonomie, die auf faszinierende und ambivalente Weise Verfahren europäischer Kunstmusik mit Elementen urbaner und indigener Musikkultur Lateinamerikas in einer von Stille zerschnittenen Kontrastdramaturgie zusammenbringt. (Wergo)
Das Ensemble Nikel agiert eigentlich im Set-up eines progressiven Jazz-Quartetts und verbindet Tugenden avancierter Kammermusik mit elektronischen Erweiterungen. Nun haben sich Patrick Stadler (Saxophon), Yaron Deutsch (E-Gitarre), Brian Archinal (Perkussion) und Antoine Francoise (Klavier) Stücken von Marco Momi verschrieben, der die inhärente Energie dieser Besetzung befeuert, ohne dabei stilistische Anleihen an Jazz oder Rock zu nehmen. Stattdessen entstehen dichte, Klangtexturen, deren Verläufe unvorhersehbare Wendungen nehmen können. Dabei klingt diese energiegesättigte Musik in den Händen von Nikel oft wie im Moment des Spiels entstanden. In den Stücken der „Nudi“-Serie (2006–18) geschieht dies klanglich konzentriert und dennoch vielgestaltig; in „ALMOST NOWHERE“ (2004) wächst das zum lärmenden Getöse an. (Kairos)