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Reise nach Andernach

Untertitel
Betancorband: hispanoid. Traumton records.
Publikationsdatum
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Eine Frau sitzt in der Bahn, fantasiert und löst die kniffligsten Preisrätsel in DB-Zeitschriften, was ihr aber in ihrer Einsamkeit auch nicht weiterhilft: „was nützt es man weiß die kniffligsten Fakten und hat keinen Geschlechtsverkehr“. Diese andere, sexbedürftige Molly Bloom klammert sich an vorbildhafte Väter und Brüder: Michel Houellebecq, der nicht nur „hilfreiche“ Bücher schreibt und seine vertrackte „Vorbildfunktion“ erfüllt, sondern auch noch so schön dichten und singen kann. Und warum fährt sie ausgerechnet „zum Ficken nach Andernach“? Man ahnt es schon. Weil das die Heimat des wüsten Erotomanen mit dem romantisch-gebrochenen Herzen Charles Bukowski ist.

Meint Popette, die hier, als eine unter vielen Masken, nur unter dem Familien- und Bandnamen Betancor auftritt, das alles ernst? Oder ist es spitze Ironie und schwarzer Zynismus? Jedenfalls ist „hispanoid“ sehr viel mehr als „nur“ ein Album mit leitmotivisch aneinander gereihten Songs. Es sind komplexe Welten, die sie in diesen brüchigen Kurzgeschichten entwirft, man findet nicht mehr so leicht aus ihnen heraus. Und die merkwürdig zerstückte und doch stets rhythmische und suggestive Musik tut das ihre dazu, dass man am Ende den roten Faden in diesem Labyrinth nicht mehr vermisst, sondern sich den Betancor-Erzählungen aus dem Weltalltag der Epoche bereitwillig hingibt. Ziemlich spanisch kommt einem manches vor, nicht nur wegen des Hineingleitens in diese andere Sprache mitten in vielen Liedern, und anderes wiederum fremd-vertraut. „Hispanoid“ ist eine ziemlich „gebildete“, man könnte auch sagen referentielle Platte. Auf Schritt und Tritt begegnen einem Klassiker, aber so verformt oder deformiert, dass man zunächst irritiert ist. Astor Piazzollas „Libertango“, den Grace Jones vor einem Vierteljahrhundert zur schwermütig-schwülen Hymne aller Nachtschwärmer machte, nutzt Betancor zur Abrechnung mit einer Freiheits-Rhetorik, die nur die harte Tatsache verdeckt, dass in der schönen neuen Welt des Neo-Liberalismus jeder schauen muss, wo er bleibt, und ohne übertriebenen Schutz den Zumutungen der Arbeitswelt zur Verfügung zu stehen hat, bei Strafe des Untergangs. In „Mundo material“ verkehrt sie Madonnas frivoles Bekenntnis aus den 1980er-Jahren („Material Girl“) zu einem illusionslosen Statement über den Stand der Dinge: „Wir leben alle in materialistischer Welt/und alle sind wir nichts ohne Geld.“

Nachrichten aus dem „Prekariat“, also der Welt der Praktikantinnen und einer Bohème mit Schreibblockade, könnte man diese Betancor-Postmoderne überschreiben, wo ständig zitiert wird und noch das Vertrauteste einen surreal-wunderlichen bösen Dreh bekommt; so sehr, dass selbst dem überlebensgroßen „role model“ Bob Dylan, das natürlich auch seine maskierten Credits bekommt, Hören und Sehen vergeht. Die letzte Katastrophe aber, „Hausverbot by h & m“, kontert Betancor mit dem Brecht-schen, die vertrauten Bibelworte vom Kopf auf die Füße stellenden, Bekenntnis zur Rebellion: „wer hat dem wird genommen.“ Das bedeutet hier nicht: Weltrevolution, sondern kleinere Kaufhausdiebstähle, hier und da. Und wer assistiert Brecht und Betancor bei diesen Selbstbehauptungsversuchen? „Marx und Lafontaine.“ Das nennt man dann wohl Ironie der Geschichte.

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