Aktuell im Porträt der Edition zeitgenössische Musik: Jonah Haven +++ Die Musik des Schweizer Komponisten Stefan Keller ist ungemein vielsprachig. +++ Wieviele Aufnahmen mag es von „Dérives“ (1973/74) geben?
Spuren von Melodie und Harmonie
1.
Aktuell im Porträt der Edition zeitgenössische Musik: Jonah Haven, 1995 in Ohio geboren und momentan Promovend bei Chaya Czernowin in Harvard. Er schreibt eine konsequent reduzierte und zugleich vielschichigte Instrumentalmusik, die mit verblüffender Intensität dem guten alten Klang-Kontinuum eine ganz neue Brisanz verschafft. Stücke wie „aren’t wet“ (2019) für präpariertes Fagott und Violine mit präpariertem Bogen, „gasser“ (2020) für acht Musiker*innen und das Trio „another ditch“ (2018) feiern das Unperfekte in schmutzigen Klangströmen, die ihre Sedimente unentwegt umschichten. Oder um es mit Booklet-Autor Gordon Kampe zu sagen: eine Musik der permanenten „Störungen, Brüche und Perforationen“, die im Flirren, Schnarren und Dröhnen ihrer Materie eine ganz eigene Schönheit entwickelt. Das plätschert bei Haven jedoch nie auf einem einmal etablierten Level müde dahin! In Havens melancholisch oszillierender Flächigkeit kann jederzeit eine überraschende Expressivität hineinbrechen. Ebenfalls verantwortlich für den brüchigen Zauber der geräuschhaft rauen Texturen sind kaum wahrnehmbare Spurenelemente von Melodie und Harmonie. „Slip letting by hand“ (2018) wirft im verzerrten Ächzen von präparierter Violine und Violoncello Restbestände der Tradition ins Rennen: Fragmente von Skalen, Arpeggien und anderen altgedienten Spielfiguren. Die mikrotonale Monochromie im fast regungslosen „i burn a million years“ (2019) für zwei Akkordeons ist in Havens vielfarbiger Klang-Verschmutzung dann schon fast ein Purismus. (Wergo/Podium Gegenwart)
2.
Die Musik des Schweizer Komponisten Stefan Keller ist ungemein vielsprachig. Allen Kompositionen gemein aber ist eine extreme Körperlichkeit der musikalischen Gestik. Es ist schade, dass in diesem Portrait keine Tabla-Stücke integriert werden konnten, denn Keller hat das Spiel der Kesseltrommeln bei indischen Meistern erlernt und in jüngerer Zeit mit einigen bemerkenswerten Kompositionen dafür aufhorchen lassen. Aber auch Kellers Kammermusik ist nicht ohne, die das Ensemble Ascolta hier ausgesprochen energiegeladen eingespielt hat. Während das Klaviertrio „Schaukel“ (2015) die Musiker mit dissonanten Akkordballungen auf einen Parcours expressiver Verausgabung schickt, begibt sich „Breathe“ (2016) mit E-Gitarre, Klavier und Akkordeon in hybride Sphären aus Live-Elektronik und Instrumentalklang. Ruhig atmende Klangbewegungen stehen hier ekstatischen Verdichtungen gegenüber. Vollends entfesselt gibt sich das titelgebende „hybrid gaits“ (2017), wo Drumset und Sample-Keyboard in einen rhythmischen Taumel geraten. Die Rhythmus-Schleifen im Drum ’n’ Bass-Style klingen dabei ebenso fett wie die Jazz-Anknüpfungen – als wäre das Ensemble Ascolta zu einer außer Rand und Band geratenen Big Band mutiert. (Wergo)
3.
Wieviele Aufnahmen mag es von „Dérives“ (1973/74) geben? Eine? Zwei? Sylvain Cambreling dirigierte erst 2017 die deutsche Erstaufführung des Epoche machenden Werkes in Köln. Beim Einstudieren untersuchte er die Riesenpartitur am Boden mit der Lupe. Insofern ist diese WDR-Produktion schon wegen der raren Begegnung mit Gérard Griseys opulenter Initialzündung des Spektralismus Pflicht! Was beginnt wie ein musikalischer Scherz mit dem mikrotonalen Einstimmen des Orchesters, entwickelt sich in der Folge zu einem soghaften Klang-Panoptikum, das alles andere als statisch daherkommt. Die Unterschiedlichkeit der Texturen ist verblüffend: schwebend perforierte Gewebe, glissandierende Klangkaskaden, brutaler Furor, schattenhaft tonale Momente, wuchtige Erschütterungen oder unglaubliche Zartheit stecken in diesem orchestralen Wurf, der sich am Ende in ein dekadentes Leuchten und Strahlen verabschiedet. Danach haben die anderen Stücke es schwer: Die „Mégalithes“ (1969; Ersteinspielung!) für Bläserensemble sind ein aleatorisches, deutlich von Xenakis beeinflusstes Frühwerk, das während Griseys Studienzeit bei Messiaen entstand. Eines der wenigen Vokalwerke Griseys ist „L’icône paradoxale“ (1992/94). Dort werden elegische Linien von Sopran und Mezzosopran immer dramatischer mit dem Orchester verwoben. (bm)
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