Durchs musik-industrielle Unterholz geistert seit Jahren ein Gespenst. Es wildert in hohen Lüften hehrer Kunst und suhlt sich in tiefsten Niederungen. Mit Jedermann ist es gut Freund, bedient sich mal hier, mal da. Vom Grabbeltisch der Postmoderne wird gepickt, was auf den ersten Blick gefällt: Nie eine ganze Portion, von allem nur ein bisschen.
Ist von neuen Strategien der Klassik-Branche die Rede, fällt früher oder später der Begriff „Crossover“ – Musik, die alles sein will und doch so wenig ist. Nun legt die Decca eine DVD mit Ute Lemper vor, die zeigt: Man muss Klassik nicht durch Latino-Rhythmen verbessern, um vielseitig zu sein. In Aufzeichnungen aus dem Pariser „Bouffes du Nord“ und der Hamburger Musikhalle singt Ute Lemper Lieder von Bruno Weill und Michael Nyman – eine verblüffende Kombination. Zum einen, weil die deutsche Chanteuse so lustvoll zwischen den Stilen pendelt, weil sie es so sensibel und intelligent wie eine klassische Liedsängerin tut: An den Piano-Stellen der Weill-Lieder glaubt man eine Feder zu hören, die sanft und schwerelos zu Boden schwebt. Nie wirkt etwas aufgesetzt oder gar kokett. Doch, und das macht die besondere Faszination dieser DVD aus, auch dem Auge werden unterschiedliche Facetten geboten: Im halbszenischen Weill-Abend posiert und räkelt sich die Lemper wie eine Katze, François Austerlitz spielt fulminant auf der Lichtorgel dazu. In Nymans „Songbook“ kombiniert Regisseur Volker Schlöndorff Live- und Studio-Szenen mit thematisch verwandtem Bild-Material. Selbst um die Nazi-Problematik der Celan-Lieder wird kein Bogen gemacht und dennoch gerät das Ganze nie ins seichte Fahrwasser von Moral- und Zeigefinger-Ästhetik. Alles keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, wie lieblos Konzerte oft abgefilmt werden.
Michael Nyman: Songbook; Ute Lemper, Michael Nyman Band, Michael Nyman; Regie: Volker Schlöndorff; Weill: Bilbao-Song, Tschaikowsky, Trouble Man, My Ship, Alabama-Song, Surabaya-Johnny u.a.; Ute Lemper, Jeff Cohen (Klavier); Regie: Jean-Pierre Barizien (1992)
Decca/Universal DVD 074 165-9 (154‘)