Jeder kennt sein berühmtes Mundharmonikathema aus dem Italo-Western-Klassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“. Es ist so berühmt, dass es in den 90ern sogar von den rechten Republikanern in einem Wahlspot missbraucht wurde. Das war lange bevor Henry Mancinis „Pink Panther Theme“ zum musikalischen Leitmotiv der rechten Mörderbande NSU wurde. Ausgerechnet der durch und durch linke Komponist Ennio Morricone wurde von rechten Politikern für ihre Ziele instrumentalisiert. Am 10. November feiert der „Maestro“ in seiner Heimatstadt Rom seinen 85. Geburtstag. Als Geburtstagsgeschenk ist ein tolles EarBook (mit 4 CDs) bei Edel erschienen.
Rund 400 Scores hat Ennio Morricone im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts geschrieben. Er hat dabei oft sehr eng mit den besten Regisseuren seiner Zeit zusammengearbeitet. Und so liest sich die Regisseursliste wie ein Who is Who der italienischen Filmgeschichte seit den frühen Sixties: Lina Wertmüller, Dino Risi, Sergio Leone, Marco Bellocchio, Pier Paolo Pasolini, Duccio Tessari, Gillo Pontecorvo, Sergio Sollima, Sergio Corbucci, Carlo Lizzani, Mauro Bolognini, Elio Petri, Liliana Cavani, Bernardo Bertolucci, Mario Bava, Dario Argento, Damiano Damiani, Alberto de Martino, Valerio Zurlini, Giuseppe Tornatore. Um nur die allerwichtigsten zu nennen, deren großartige Werke von Filmhistorikern und Fans in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden. Dazu kamen dann seit den späten siebziger Jahren noch einige Hollywood-Regisseure wie Terrence Malick, John Carpenter, Sam Fuller, William Friedkin, Roland Joffé, Brian De Palma, Barry Levinson, Oliver Stone oder Warren Beatty. Und natürlich darf Quentin Tarantino nicht vergessen werden, der seine letzten Filme „Inglourious Basterds“ und „Django Unchained“ mit einigen Morricone-Tracks orchestriert hat. Und der überhaupt sehr viel dazu beigetragen hat, dass in den letzten Jahren ein solcher Kult um das einstige „Stiefkind“, das italienische „Kommerzkino“, entstanden ist. Zurecht übrigens!
Natürlich sind es die großen Melodien aus rund einem Dutzend Filmen, die nun selbst von Kurorchestern nachgespielt werden, die Ohrwürmer aus den „Dollar“-Filmen, „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Cinema Paradiso“. Aber bei den Fans seines Gesamtwerks gibt es ganz andere Favoriten wie seine großartige Musik zu Dario Argentos erster großer Horrortrilogie, die 1970 mit dem Giallo „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“ begann. Im ersten soeben erschienenen Buch über Argento hat der Filmemacher Dominik Graf, der dem Genre sehr zugetan ist, einen sehr schönen Text über die musikalische Seite dieser Trilogie verfasst: „Drei Soundtracks wie aus einem Guss. Man darf sagen, eine Trilogie der leisen Töne. ‚Man kann über Musik nicht reden‘, sagt Morricone zwar in der Doku zum ‚Handschuh‘-Film. Aber doch, man kann sehr wohl. Er selbst kann es, wenn er erzählt, wie diese ‚Musica traumatica‘ (so bezeichnet er seine drei Scores für Argento) mit seinen famosen Instrumentalisten direkt zu den Bildern des Films entstand. Ohne festen Takt, ohne Metrik, mit den Händen fuchtelnd, dirigierte der Maestro jeden Durchgang live zu den geschnittenen Szenen. Jede Nummer ist im Grunde eine kleine Improvisation. Man höre nur das Schlagzeugsolo zur nächtlichen Verfolgungsjagd, wenn der Mann mit dem irren Gesicht hinter Musante her ist. Oder die moderne Zwölfton-Jazz-Kammermusik zur berühmten Anfangsszene in der Kunstgalerie.“ So kann man sich wohl die ganze Arbeit in seiner experimentellen Hochphase zwischen 1965 bis ‘75 vorstellen.
Und wenn die Filmmusik schon vor dem Schnitt komplett eingespielt war, haben seine Regisseure den Film oft nach seiner Musik geschnitten. Morricone gab auch den Takt vor für den ganzen Schnitt des in Hollywood verstümmelten Epos „Es war einmal in Amerika“. Sergio Leone hatte sich für seinen letzten Film aus Morricones Fundus von einst „abgelehnten“ Tracks die Rosinen herausgepickt, wie wir aus dem sehr gelehrten „EarBook“-Text des Morricone-Experten Sergio Miceli erfahren. Und sie dann zu einer „beispiellosen Einheit“ zusammengefügt: „Nehmen wir die Szene, in der Noodles in die Bar von Fat Joe zurückkommt – zunächst als Stummfilm gedreht, um der Musik möglichst viel Raum zu geben, und dann sorgfältig konstruiert, um die Semiphrasen jeder Melodie zu respektieren.“ Auch wenn man es schon immer geahnt hat, dass sich seine Regisseure reichlich aus diesem Fundus bedienten (bei Oliver Stones „U-Turn“ war das nicht zu überhören), aber bei diesem homogenen Score überrascht es einen dann doch.
Und es ist seltsam, obwohl die Musik auf den beiliegenden vier CDs (die Morricone abgesegnet hat) aus fünf Jahrzehnten stammt, ist sie doch seltsam homogen. Es war meist ein „Klangkörper“, der diesen Sound in dieser Zeit eingespielt hatte. Und der diese „Film-Opern“ am laufenden Band produziert hatte. Wer will, kann von einem ganz speziellen Morricone-Film sprechen. Vor allem, wenn seine geliebte „Engelsstimme“ dabei war: die einzigartige Edda Dell‘Orso, die jeder Kinozuschauer seit „Spiel mir das Lied vom Tod“ im Ohr hat.
Ein Film, der immer auch erzählt von Morricones Hin-und-Hergerissenheit zwischen E- und U-Musik, seit seinen Anfängen unter Goffredo Petrassi am Konservatorium, als er sich heimlich einem Unterhaltungsorchester angeschlossen hatte. Später hat er exquisite Arrangements für Chet Baker, Mina oder Gino Paoli geliefert und damit die Standards für italienische Schlagermusik gesetzt, wie Burt Bacharach in den USA. Und an Bacharach erinnert dann sein hochkomplexer „Easy Listening“-Sound bisweilen tatsächlich. Während bei Bacharach aber immer die Melodie im Mittelpunkt stand, hat Morricone immer wieder mit musikalischen „Parzellen“ gearbeitet, wie Bernard Herrmann, der andere große Kino-Musiker des 20. Jahrhunderts.