Zwei Dinge haben Schlagwerker vielen anderen Instrumentalisten voraus: Die Entstehung ihrer Kunst ist auf faszinierende Weise sichtbar. Diesen Bonus macht sich der phänomenale Martin Grubinger zunutze, wenn er seinem Publikum auch Kompositionen zumutet, denen es sich unter anderen Umständen wohl eher nicht aussetzen würde.
Iannis Xenakis’ „Okho“ ist so ein Werk: Nach einem strengen Bauplan konzipiert, hat der Komponist in immer neuen Konstellationen der drei Trommler und ihrer verschiedenen Instrumente aus einem Rhythmusmodell vielfältige Akzentverzweigungen entwickelt. Gebannt verfolgt man diesen optisch unmittelbar nachzuvollziehenden Prozess, festgehalten auf einem Konzertmitschnitt aus Köln vom Mai 2010. Mit ungewöhnlichen Kameraperspektiven wird Grubinger und seinen Kollegen zu Leibe gerückt, sodass sich einiges von der Dynamik ihres Auftritts mitteilt. Mit dem Niveau dieses Stücks kann zwar nur noch Keiko Abes „The Wave“ halbwegs mithalten, dafür machen die süffigeren, mit funkigen Bläsersätzen gewürzten Nummern ziemlich Laune (Deutsche Grammophon 4400734633).
Radikaler Szenenwechsel: Auf der Bühne der Königlichen Oper Kopenhagen ist das Innere eines Kirchenraums zu sehen. Wenige Trauergäste sitzen am offenen Sarg, ein bebrillter Junge tritt heran, berührt die Leiche, als diese sich plötzlich aufrichtet.
Poul Ruders versucht mit seiner Oper „Selma Jezková“ Lars von Triers Musical-Melodram „Dancer in the Dark“ in die Sphäre der Oper zu überführen. Um dem direkten Vergleich von Beginn an aus dem Weg zu gehen, wählt er den Blickwinkel des Kindes, das im Original keine wesentliche Rolle spielt. In der Rückblende wird nun die Tragödie der Mutter erzählt, die zur Mörderin im Affekt wird, um das Ersparte zu verteidigen, mit dem sie ihren Sohn vor der Erblindung bewahren will. Was im Film durch Wechsel von der nervösen Handkamera zur Gegenwelt der Musical-Einlagen und durch die Intensität Björks eine singuläre Wucht entfaltet, verkommt bei Ruders zum biederen Betroffenheitsdramolett. Zu keinem Zeitpunkt gelingt es ihm, mit seiner routiniert den Erfordernissen des Librettos angepassten Musiksprache eine weitere, transzendierende Ebene einzuziehen. Allein die Qualität der Interpreten, allen voran Ylva Kihlberg in der Titelrolle, lässt eine Spur der Kraft des Originals erahnen (DACAPO 2.110410).
In Valencia haben unterdessen Carlus Padrissa und La Fura dels Baus wieder einmal zugeschlagen. Nach ihrem spektakulären „Ring“ (siehe nmz 7-8/2010) haben sie sich nun Hector Berlioz’ kaum minder ambitionierte „Trojaner“ vorgenommen, können aber zu keinem Zeitpunkt an die Brillanz ihrer digitalen Wagner-Welten anknüpfen. Die Verortung in einem nicht näher definierten Star-Wars-Ambiente trägt dem bei allem Überwältigungspotenzial durchaus auch sperrigen Stoff keinen nennenswerten Deutungsansatz zu. Das Sängerensemble schlägt sich wacker, Valery Gergiev dirigiert die geniale Partitur mit knalliger Verve, einigermaßen vordergründig (C Major, Blu-ray, 706104).
Von anderem Kaliber ist da der Münchner „Rusalka“-Mitschnitt. Um Martin Kusejs radikale Deutung hatte es viele Diskussionen gegeben, unbestritten – und nun aus nächster Nähe zu erleben – ist, dass seine Übertragung auf aktuelle Missbrauchs- und Inzest-Fälle in sich schmerzhaft schlüssig gerät. Das liegt zum einen daran, dass Kusej aus dem Libretto wie mit einem Seziermesser den Subtext herausgelöst hat, zum anderen an seiner fabelhaften Arbeit mit den Sängerdarstellern: Was insbesondere Günther Groissböck als Wassermann und Kristine Opolais in der Titelrolle leisten, gehört zum intensivsten, was in jüngster Zeit auf DVD festgehalten worden ist. Nicht ganz so tief dringt Tomás Hanus mit seiner musikalischen Interpretation, Dvorák klingt über weite Strecken so, als ahnte er nicht einmal, welche Abgründe sich in seiner Oper auftun könnten (C Major, Blu-ray, 706504).
Spannungsgeladen ist auch Peter Rosens Porträt des armenisch-sowjetischen Komponisten Aram Chatschaturjan. Zwar befremdet seine Entscheidung, diesen als Ich-Erzähler (gesprochen von Eric Bogosian) durch seine Lebensgeschichte führen zu lassen, die Fülle seltenen Archivmaterials und die Substanz der Interviewbeiträge ergeben jedoch einen packenden Einblick in die Höhen und Tiefen seiner Karriere. Wie seine Kollegen Schostakowitsch und Prokofieff fiel er 1948 unter das Verdikt, ein Formalist und Volksfeind zu sein (Tichon Chrennikow, der die schwarze Liste verlas und in der Folge zum Generalsekretär des Komponistenverbandes avancierte, versucht sich als Opfer darzustellen). Die anschließende „Umerziehung“ mit Besuchen in ländlichen Gegenden zeitigte kuriose Situationen, wenn ihm etwa seine eigene Musik als alte Volksweise präsentiert wurde. Mit dem Ballett „Spartakus“ gelang ihm 1956 die Rehabilitierung. Eine gehaltvolle Hommage, auch weil Chatschaturjans musikalische Wurzeln plastisch werden und mit Rostropowitschs furioser Interpretation der Konzert-Rhapsodie ein wertvolles Dokument enthalten ist. Über die Visualisierung des Klavierkonzertfinales sei der Mantel des Schweigens gehüllt (EuroArts 2058278).