Große zweiteilige Freitreppen, die sich wie von Geisterhand gelenkt aufeinander zubewegen und zu einer werden. Kronleuchter, hunderte von Kilogramm schwer, die im freien Fall auf die Bühne sausen. Menschen, die durch die Luft zu schweben scheinen und andere, die wie von Geisterhand aus der Versenkung aufsteigen. Alles bewegt sich, alles dreht sich – und dazu ein Feuerwerk aus bunten Lichtern und Musik. So oder so ähnlich kann es bei einer Opernaufführung geschehen. Damit das alles reibungslos funktioniert, muss jemand alle Fäden in der Hand haben!

Bundesweiter Tag des Inspizienten in Deutschland
Musikalische Jahrestage (19) – 23. Mai – Der bundesweite Tag des Inspizienten in Deutschland
Manche Dinge nehmen wir als viel zu selbstverständlich hin. Bleiben wir im Kulturbereich: Eine örtliche Bibliothek mit vielen guten Medien. Ganz selbstverständlich suche ich da nach Büchern zu bestimmten Themen, vielleicht sogar ein ganz spezielles Buch und finde ziemlich oft, was ich suche. Wie funktioniert das – wie kommt gerade „mein“ gesuchtes Buch ins Regal? Wer hat es ausgesucht, eingekauft, in Folie eingeschlagen, Aufkleber darauf geklebt und es irgendwann gerade dahin gestellt, wo ich es suche? Wer hat sich diese Anordnung der Bücher nach bestimmten Sachgruppen ausgedacht und wer pflegt den Computerkatalog? Wie kommt es, dass das Buch, das ich heute zurückgegeben habe morgen wieder für einen anderen Leser im Regal steht? Das weiß ich nicht – weil es eben so selbstverständlich ist und ich im Normalfall darüber nicht nachdenke.
Matthias Claudius kommt mir in den Sinn: „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehen.“ Nein, lachen tun wir über die Sachen nicht – aber wir denken zu wenig darüber nach, wie uns etwas präsentiert wird und wie das unsichtbare Gerüst hinter manchen Dingen zustande kommt, aussieht und wie ziemlich groß es gelegentlich sein kann. – Heute am „Bundesweiten Tag des Inspizienten“ wollen wir einmal hinter die Kulissen eines Opernhauses schauen und uns der Schaltstelle nähern, ohne die während einer Vorstellung absolut nichts funktioniert. Alles – wirklich alles –, was in Bühne und Zuschauerraum geschieht, liegt in der Hand eines Menschen, der so wie ein Dirigent sein Orchester leitet, alle Beteiligten an einer Aufführung zur rechten Zeit zum rechten Ort beordert. Der Anspruch: alles muss hundertprozentig klappen!
Wie gewohnt: zuerst ein kleiner Blick auf die Homepage von „Kuriose Feiertage“. Dort werden für den heutigen Tage zwei weitere Feiertage verzeichnet. Zum Weltschildkrötentag (World Turtle Day) hat der Tag des Inspizienten ganz offensichtlich keine näheren Verbindungen. Der US-amerikanische Tag des Glückspfennigs (National Lucky Penny Day) dagegen steht im direkten Zusammenhang mit der Tatsache, dass der Tag des Inspizienten am gleichen Tag gefeiert wird. Die Idee des Tags der Inspizienten geht auf Susann Fiedler und Matthias Paul Kuhn, beide im Jahr 2019 Inspizienten am Theater der jungen Welt in Leipzig. Der Termin sollte zum einen natürlich nicht in den Theaterferien (Juli & August) liegen. Da aber Theaterleute ausgesprochen abergläubisch und unterbezahlt sind, schien Ihnen der Tag des Glückspfennigs ein geeignetes Datum auch für ihren Feiertag.
Hinter der Bühne
Nicola Pause, eine von drei Inspizientinnen am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, holt mich am Bühneneingang ab, um mir ihren Arbeitsplatz zu zeigen. Der befindet sich direkt neben der Bühne. Der Weg dahin aber ist ein schier undurchschaubares Labyrinth. Treppauf, Treppab, Kurve links, Biegung rechts – alles schmiegt sich an die große innere Rundung der Bühne an. „In manchen Theatern wird der Bereich hinter der Bühne in linke und rechte Seite geteilt“, höre ich Pause erklären. Klar, so kann man sich in dem Gewirr von Wegen und immer wieder (Brandschutz-)Türen ein wenig orientieren. „Manche Theater haben auch eine Damen- und eine Herrenseite, wie zum Beispiel Braunschweig.“ (Ob das der Grund ist, warum in manchen Häusern auch im Publikumsbereich die eine Toilette auf der einen Seite des Theaters befindet und die andere auf der anderen Seite?) Ich zeige mich interessiert (bin es auch!), frage mich aber immer wieder ein wenig ängstlich, wie und ob ich aus diesem Theater jemals wieder herauskommen werde.

Nicola Prause an ihrem Inspizientenpult im Niedersächsischen Staatstheater Hannover. © Ralf-Thomas Lindner
Das „Epizentrum der Kommunikation“
Angekommen! Am Rand der Bühne steht ein Steuerpult mit vielen Knöpfen und vier Monitoren. Ein Mikrofon an einem Schwanenhals reckt sich dem Besucher entgegen. Hier arbeitet Nicola Pause seit 19 Jahren. Es ist eng, die Decke ist niedrig. Es macht ein wenig den Eindruck eines Hinterzimmers mit vielen Steckdosen und Sicherungen, dem Steuerpult und ziemlich wenig Licht. Es ist tatsächlich eher unspektakulär. Auf der Bühne findet gerade eine Beleuchtungsprobe statt – zwei Rentner (Minijob), die gefühlt stundenlang bewegungslos verharren, bis das Licht für die jeweilige Station richtig eingestellt ist. Hier ist Pauses Arbeitsplatz und gleichzeitig das Herz einer jeden Aufführung auf der Bühne. Sie nennt diesen Ort das „Epizentrum der Kommunikation“, denn von hier aus ist sie per Sprechverbindung mit allen Abteilungen des Hauses verbunden.
Bindeglied zwischen Kunst & Technik
Was aber macht ein Inspizient genau? Er ist bei einer neuen Produktion von Anfang an dabei und hört sich an, was der Regisseur später auf der Bühne sehen möchte. Pause hat einmal in einem Interview gesagt: „Als Inspizientin versuche ich die Sprache des Regisseurs zu übersetzen, so dass sie die Technik auch versteht.“ In einer Arbeitsbeschreibung des Deutschen Bühnenvereins liest sich das so: „Inspizient:innen koordinieren den gesamten künstlerischen und technischen Ablauf einer Bühnenaufführung. Sie sind somit Bindeglied zwischen Kunst und Technik.“
Alles, was während einer Aufführung auf der Bühne geschieht und was der Inspizient mit allen beteiligten Parteien abgesprochen hat, wird in das sogenannte Inspizientenbuch (meist ein Klavierauszug oder ein Textheft) eingetragen. Diese Eintragungen, Zeichen und Informationen, nennt man Cues (englisch für „Stichwort“). Sie sind die Grundlage und Voraussetzung für einen fehlerfreien Ablauf einer Vorstellung, aber auch für für einen wiederholbaren Ablauf einer jeden Vorstellung in der gleichen Qualität.
Sicher kann auch ein anderer Inspizient mit Hilfe eines solchen Inspizientenbuches eine Veranstaltung „fahren“. Tatsächlich aber kennt nur der Inspizient, der von Anfang an bei der Inszenierung dabei gewesen ist, diese so genau, dass man es eigentlich keinem Kollegen zumuten möchte, sich da kurzfristig einzuarbeiten und übernehmen zu müssen. Für Pause sind auch Krankheit und Fieber keine Gründe, nicht zur Arbeit zu gehen. Die eigene Verantwortung für die Kollegen und die eben geradezu intime Kenntnis der Inszenierung – die will sie wenn es irgend geht nicht auf andere abdrücken.
Der Inspizient ist vor und während der Aufführung auch für die Sicherheit zuständig. Funktioniert alles ordnungsgemäß, sind keine unvorhergesehenen Dinge geschehen? Auf einer Bühne kann es viele Gefahrenquellen geben. Diese muss der Inspizient gut im Blick haben – im allergrößten Notfall sogar die Aufführung unterbrechen, um eine Gefahrenquelle für Leib und Leben einzelner Mitarbeiter zu beseitigen.
Der Inspizient ist der Verantwortliche für den korrekten Ablauf der Vorstellung – vom Öffnen des Saales für das Publikum bis hin zum letzten Vorhang am Ende der Vorstellung. Durch Einrufe („Noch fünf Minuten bis zum Beginn der Vorstellung!“) und Klingelzeichen regelt er für die Mitwirkenden den zeitlichen Ablauf vor der Vorstellung. Während der Aufführung gibt er durch Ansagen, Licht- und Handzeichen sämtliche Kommandos an die verschiedenen Abteilungen (Bühnentechnik, Beleuchtung, Requisite, Tonabteilung, ….)
Ausbildung
Obwohl es sich beim Inspizienten quasi um eine Multitask-Persönlichkeit handelt, gibt es in Deutschland bis heute keine geregelte Ausbildung für diesen Beruf. Immer wieder findet man Theaterwissenschaftler oder Musikwissenschaftler, wie Frau Pause, unter den Inspizienten. Es bieten sich aber auch viele Möglichkeiten des Quereinstieges an. Oft bietet man auch verletzten und arbeitsunfähigen Sängern oder Tänzern die Möglichkeit, die Inspizientenaufgaben wahrzunehmen. Als Voraussetzung ist es unabdingbar, die Arbeitsabläufe auf der Bühne zu kennen. Ein gewisses Maß an technischem Verständnis ist auch sehr nützlich! Für Musiktheaterinspizienten ist es notwendig, dass sie Noten lesen können. – Seit einiger Zeit werden Fortbildungen konzipiert und vereinzelt angeboten. Ansprechpartner ist hier das Inspizienten-Netzwerk e. V.. – Einen „vernünftigen“ Tarifvertrag gibt es erst seit ein paar Tagen!
Ruhe & Gelassenheit
Vor der Vorstellung ist Pause gelegentlich schon mal aufgeregt. Wenn es aber losgeht und sie ihren Kopfhörer aufsetzt (in dem die Musik und gleichzeitig sieben Sprachkanäle der einzelnen technischen Abteilungen zu hören sind) herrschen in ihr Ruhe, Tiefenentspanntheit und allerhöchste Konzentration – auch wenn direkt hinter ihr mal 40 bis 100 Mitwirkende stehen oder durchgehen. Das kann sie ausblenden, denn dafür hat sie keine Zeit, muss sie doch auf alles achten und bei unvorhergesehenen Ereignissen sofort reagieren (etwa bei Stromausfall oder wenn der Umbau nicht klappt wie geplant).
Der Deutsche Bühnenverein beschreibt die mentale und menschliche Disposition von Inspizienten mit den Worten „Sie sollten kommunikativ und belastbar sein und gut mit Menschen umgehen können, sie sollten Vertrauen schaffen, aber auch durchsetzungsstark sein.“ Wenn man mit Nicola Pause durch das Theater geht, versteht man, was gemeint ist – überall eine sehr (!) freundliche Begrüßung, oft mit Umarmung, ein paar liebe und zielgerichtete Worte hier und da. So schart sich die Bühnencrew um ihre Inspizientin, deren größter Albtraum es ist, dass irgendwann am Schluss einer Aufführung kein Applaus aufbrandet, weil sie am Anfang vergessen hat, das Publikum einzulassen.
Weitere Informationen:
- Berufe am Theater – herausgegeben vom Deutschen Bühnenverein
- Interviews – Menschen im Theater (14). Interview mit der Inspizientin Nicola Pause.
- Homepage des Inspizienten-Netzwerkes e. V.
- Share by mail
Share on