Chöre in Deutschland waren durch die Corona-Pandemie besonders betroffen, keine Konzerte, keine Proben, zu wenig angemessene Räume für Zusammenkünfte, lange Wege übers Land zum nächsten Probenort – und das in der Energiekrise. Mit anderen Worten: große Herausforderungen für eine gesunde Chorlandschaft in Brandenburg. Wir befragen hierzu die Präsidentin des Chorverbandes Brandenburg, Sabine Hellwig.
neue musikzeitung: Als Präsidentin des Brandenburgischen Chorverbandes haben Sie die Zielrichtung vieler unterschiedlicher Chöre des großen Flächenlandes im Blick. Was würden Sie als „typisch“ beschreiben? Tradition oder eher Innovation?
Sabine Hellwig: Im Brandenburgischen Chorverband (BCV) sind derzeit überwiegend Chöre organisiert, die auf eine längere Chortradition blicken. Sie sind wichtige und verlässliche Partner des kulturellen Lebens in Stadt und Land und ermöglichen überall Musikgenuss für jedermann.
Diese wichtigen Eckpfeiler der Amateurmusik gilt es zu erhalten und weiter zu entwickeln. Wir als Dachverband unterstützen die Chöre dabei zum Beispiel mit verschiedenen Projekten, wie Chortage in verschiedenen Regionen, in diesem Jahr beispielsweise auch die Organisation von Auftrittsmöglichkeiten auf der Brandenburger Landesgartenschau in Beelitz. Dort haben von April bis September über 30 Chöre mitgewirkt. Für das nächste Jahr planen wir für den 9. September wieder ein größeres Chorfest. Wir führen Netzwerktreffen durch, bieten verschiedene Fortbildungsformate an, kümmern uns vor allem auch um die Nachwuchsarbeit und sind Ansprechpartner und Interessenvertreter für unsere Chöre. Sie stellen sich auch Veränderungen. Spätestens mit den Herausforderungen der Coronazeit hat auch bei uns jeder Chor verschiedene Veränderungsprozesse hinter sich. Heute nutzen die Chöre zum Beispiel auch digitale Möglichkeiten und vernetzen sich mehr untereinander.
Das Bewahren der Tradition kann hervorragend mit modernen Veränderungen einhergehen. Und jede Neuerung basiert auf Erfahrungen.
nmz: Sehen Sie insgesamt, auch wegen der Coronazeit , Verluste an Chorsängern und Chorkonzerten? Gibt es da unterschiedliche Entwicklungen in Stadt und Land beziehungsweise zwischen Kinder-,Erwachsenen- und semiprofessionellen Chören? Oder wäre dies eine natürliche Veränderung wie das Schwinden von Männer - und Frauenchören?
Hellwig: Ja, bedauerlicherweise haben auch bei uns einige Chöre die Coronazeit nicht überstanden und lösten sich auf. Das weitaus größere Problem liegt jedoch in der Altersstruktur vieler unserer Chöre. Diese Chöre haben auch ohne Corona Bestandsprobleme. Das betrifft sowohl Chöre in den Städten als auch in ländlichen Regionen. In letzteren tragen jedoch die Bedingungen zusätzlich dazu bei, dass Chorsingen für viele nicht mehr möglich oder attraktiv ist. Hier spielen Mobilitätsbarrieren, fehlende Chorleiter*innen, nicht ausreichende finanzielle Unterstützung und die Abnahme der Bereitschaft für ehrenamtliches Engagement eine Rolle. Die Chöre in den Städten haben auch das Problem fehlender Chorleiter. Hier geht es momentan zusätzlich auch darum, passende Probenräume zu finden. Die steigende Vielzahl von Aktivitätsangeboten lässt einige Sänger*innen schneller in andere Bereiche wechseln und das Singen aufgeben. Alle Chöre in Stadt und Land blicken sorgenvoll darauf, ob sie sich die Probenräume demnächst überhaupt noch leisten können. Seit Jahren haben wir mehr gemischte Chöre, als reine Frauen- und Männerchöre. Die Chorland-schaft verändert sich. Junge Leute wollen zunächst nicht unbedingt in Vereinsstrukturen gebunden sein. Chöre schließen sich zusammen, um zu überleben. Der digitale Einfluss ist Fluch und Segen zugleich. Die Tradition zu bewahren und auf für die nächste Generation wirklich attraktive Formate zu fokussieren, das ist eine der schwersten Herausforderungen überhaupt. Und ganz sicher nicht nur in der Chorszene.
nmz: Wie sieht es in Kinder- und Jugendchören aus? Sie sind ja normalerweise die Grundlage für den Nachwuchs.
Hellwig: Ein ganz wichtiger Schwerpunkt unserer Verbandsarbeit im BCV ist auf die Kinder- und Jugendchorarbeit gerichtet. Der fehlende Musikunterricht während der Coronazeit wirkt sich hier schmerzlich aus. In den Schulchören sind zwei Jahrgänge weggebrochen und die Chorleiter*innen müssen vielerorts ihren Chor neu aufstellen. Die in Vereinen organisierten Chöre kämpften um ihre Mitglieder. Das lange Singeverbot hat unter anderem dazu geführt, dass sich die Kinder und Jugendlichen umorientiert haben und anderen Hobbys nachgehen. Die Probleme der momentan recht brach liegenden Kinder- und Jugendchorlandschaft bei uns sind jedoch längst nicht nur mit der Coronapandemie zu begründen. Schon im Kleinkindalter, in den Kitas wird viel weniger musiziert und gesungen. In den Schulen fallen zu viele Musikstunden aus, die Qualität des Musikunterrichts ist nicht gesichert, da es zu wenige Fachlehrer gibt. Heute gibt es zu wenig chorische Anreize im ländlichen Raum – kaum engagierte Musiklehrer oder Chorleiter*innen, die zusätzlich, neben ihrer Arbeit einen Chor gründen und leiten wollen. Und die ChorleiterInnen, die sich dieser Herausforderung stellen, können oft nicht bezahlt werden. Eltern, die wollen, dass ihre Kinder im Chor singen, müssen oft bis in die nächste Stadt fahren. Das können sich nicht alle leisten beziehungsweise ist das oft bei berufstätigen Eltern auch zeitlich nicht realisierbar. Wir im Chorverband sind angetreten, um das Chorsingen wieder attraktiver zu gestalten und deren Akteure mehr zu unterstützen. Kürzlich haben wir beispielsweise einen Kinder- und Jugendchortag organisiert, der auf sehr positive Resonanz stieß. Wir kümmern uns um die Chorleiter*innen, bieten auch Vernetzungs- und Fortbildungsmöglichkeiten an und unterstützen vor allem diejenigen, die einen Chor neu gründen wollen.
nmz: Bietet der Chorverband regelmäßig Fortbildungskurse an, zum Beispiel für Chorleiter oder Stimmführer, für das Erfassen neuer Chorliteratur, für die Zusammenarbeit mit Komponisten und Musikern ?
Hellwig: Ja, unser Verband legt jährlich neue Chorleiter*innenkurse auf, bietet verschiedene Fortbildungen für Chorvorstände und Sänger*innen an und hat zum Beispiel seit diesem Jahr an jedem letzten Donnerstag im Monat das „Thema des Monats“ als digitales Format, in dem Themen wie Chorliteratur, Fördermöglichkeiten, Stimmbildung, Einsatz digitaler Möglichkeiten in der Chorarbeit und andere Themen auf dem Programm stehen. Darüber hinaus pflegen wir eine aktive Zusammenarbeit mit unserer Musikakademie in Rheinsberg, die ein breites Spektrum anbietet und die Möglichkeit, ganze Wochenenden oder Wochen aktive Chorarbeit durchzuführen. Ganz herausragend war im Mai diesen Jahres das Pop- und Jazzchorfestival, in dem die Chöre eine ganz besondere Erfahrung mit erstklassigen Chor-Coaches machen konnten. Erst kürzlich begann hier in Rheinsberg die nächste C-Chorleiter*innen- Ausbildungsrunde. Wir arbeiten ebenfalls sehr eng mit dem Landesmusikrat Brandenburg zusammen, der auch verschiedene Fortbildungsformate ermöglicht – zum Beispiel die Kinderchorwerkstatt, Ensemblefortbildungsthemen, verschiedene Seminare für Chöre. Im Juni haben wir eine attraktive Landeschorbegegnung im uckermärkischen Angermünde erlebt, wo neben viel Gesang auch Workshops stattfanden. Die Arbeit mit Komponisten ist allerdings noch rar gesät. Hier könnte eine beiderseitige Aktivierung die brandenburger Chorlandschaft bereichern.
nmz: Wird die Amateurarbeit der Chorgemeinschaften vom Land unterstützt oder läuft die meiste Arbeit über Ehrenamt?
Hellwig: Beides ist unglaublich wichtig. Unser gesamtes Verbandsleben funktioniert ausschließlich ehrenamtlich, bis auf eine Vollzeitstelle in unserer Geschäftsstelle, die wir auf zwei Personen aufgeteilt haben. Die Vollzeitstelle können wir nur Dank einer Förderung unseres Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur stemmen. Die meisten unserer Projekte sind ebenfalls nur mit Fördermitteln möglich. Das ist unheimlich wichtig und ermöglicht es uns, das Chorleben im Land aktiv zu begleiten. Um es deutlich wirksam weiterzuentwickeln, reicht die eher geringe Fördersumme und die Personalkapazität in einem so großen Flächenland jedoch nicht aus.
nmz: Haben Sie über den Chorverband Verbindungen oder sogar Kooperationen mit Verlagen der Chorliteratur (Tonger, Schott o.a.) beziehungsweise zu Komponisten, mit denen die Chöre arbeiten können, und auch neue, auf die Qualitäten des Chores, zugeschriebene Literatur?
Hellwig: Im Brandenburgischen Chorverband gab es gerade einen Generationswechsel. Jetzt ist es wichtig, sich zukunftsorientiert aufzustellen und am Zahn der Zeit entlang Angebote und weitere Formen der Zusammenarbeit zu finden, um unser Chorleben zu erhalten und möglichst wieder weiter auszubauen. Kooperationen mit Verlagen und Komponisten gibt es derzeit nur vereinzelt in bilateraler Arbeit der Chöre mit den Betreffenden. Beides steht jedoch auf unserer To-do-Liste. Personal- und Geldmangel sind momentan noch Verhinderer diesbezüglich.
nmz: Inwieweit unterstützt der Chorverband etwa bessere Honorarverhältnisse, Öffentlichkeitsarbeit, Konzertgeschehen?
Hellwig: Unsere Mitgliedschöre haben die Möglichkeit, ihre Konzerte über uns ankündigen zu lassen. Wir kommunizieren sie auf unserer Homepage, die notwendigerweise gerade überarbeitet wird, versenden digitale Mitgliederinfos und veröffentlichen die Anliegen der Mitglieder in unserer Zeitschrift Brandenburg CANTAT. Wir vergeben auf Antrag Fördermittel an unsere Mitglieder laut aktuell gültiger Finanzordnung. Unsere eigenen finanziellen Möglichkeiten dazu sind jedoch so gering, dass sie nur partiell helfen und oft nur der Tropfen auf dem heißen Stein sind. Oft besteht unser Part auch darin die Mitglieder zu beraten, wo sie denn noch Fördergelder oder andere Finanzierungsmöglichkeiten erhalten. Die Honorarsituation unserer Amateurchorleiter*innen ist eher desolat. Da gibt es zwar die berechtigten Mindestforderungen, die jedoch viele unserer Chöre nicht bezahlen können. Und hier sind es gerade die ländlichen Regionen, die sich in Ermangelung eines Chorleiters aus dem Ort oft die „teureren“ Chorleiter aus den weiter entfernten Städten nicht leisten können, auch, weil weite Wege mitbezahlt werden müssen. Viele der langjährig tätigen Chorleiter sind immer noch weit weg von den Honorarsummen, die in anderen Bundesländern bezahlt werden.
Eine gelungene Unterstützungsmöglichkeit ist dazu die vom Ministerium finanzierte und beim Landesmusikrat zu beantragende Übungsleiterpauschale. Sie kann jährlich beantragt werden und unterstützt die Finanzierung des Chorleiterhonorars mit bis zu 400 Euro im Jahr.
nmz: Was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit und was hat Sie selbst an der Verbandsarbeit interessiert?
Hellwig: Ich selbst leite seit fast dreißig Jahren mehrere Amateurchöre. Es ist einfach wunderbar zu erleben, wie aus Liedideen begeisternde Konzerte entstehen, die Chor und Publikum gleichermaßen erfreuen. Die direkte Arbeit mit den Sänger*innen ist stets eine Herausforderung, fachlich, methodisch und zwischenmenschlich. Es ist großartig daran mitzuarbeiten, wie sich Amateursänger*innen entwickeln. Und es ist toll, eine über Jahre hinweg gelebte Gemeinschaft als ein wichtiges Rad im Vereinsgetriebe begleiten zu können.
Für die Dachverbandsarbeit habe ich mich entschieden, weil ich genau daran mitwirken will, dass unsere Chorlandschaft erhalten bleibt, noch viel besser unterstützt wird und sich weiterentwickelt. Wir reden hier von vielen tausenden Amateurschaffenden (allein in unserem Dachverband sind derzeit ca. 5.600 Sänger*innen aktiv), die oft ein „Fels in der Brandung“ ihrer regionalen Kulturlandschaft sind. Wir reden von Botschaftern der Regionen, des Landes und darüber hinaus, von denjenigen, die sich aktiv vernetzen und unserer nächsten Generation Werte vorleben und vermitteln.
nmz: Wie sehen die Pläne für 2013 aus?
Hellwig: Eigentlich würde ein kurzer Satz ausreichen, um das zu beschreiben: Wir wollen möglichst überall im Land – und gerne darüber hinaus – singend begeistern. Zu den Projekten und Formaten unseres Dachverbandes sagte ich ja bereits etwas. Wir wollen Ende 2023 hoffentlich auf die Neugründung von Kinder- und Jugendchören blicken und auf eine hoffentlich recht stabil gebliebene brandenburger Chorlandschaft. Wir möchten die Qualität der ehrenamtlichen Chorleiter*innen und Sänger*innen weiterentwickeln. Wir kämpfen weiter um mehr Fördermöglichkeiten für unsere Chöre, die noch viel passgenauer und mit weniger Bürokratie gestrickt sein müssten. Wir müssen uns mit Strukturen in unserer brandenburger Chorlandschaft auseinandersetzen und damit, wie wir wieder mehr Menschen für das Ehrenamt begeistern können. Wir möchten die Zusammenarbeit mit Partnern und anderen Fachverbänden erweitern und wir werden nicht müde, Lobbyarbeit für das Chorthema zu leisten. Und nicht zuletzt hoffen wir, dass die Presse und Medien über all die tollen Chöre und Aktivitäten noch viel mehr berichten. Amateurchormusik ist so sehr wichtig und unglaublich facettenreich. Sie gehört zum immateriellen Kulturerbe. Das müssen wir unbedingt bewahren und weitertragen.
Das Interview führte Adelheid Krause-Pichler.